Über die absurde Lust, Gastronomen beim Stolpern zuzuschauen
Neues Restaurant, bekannte Geschichte. Dieses Mal trifft es das Sphere im Berliner Fernsehturm – Tim Raue steckt hinter dem spektakulären Konzept, das Berliner Haute Cuisine mit einer der ikonischsten Locations der Stadt verbinden will. Der Anlass für Pressenachrichten? Ein fehleranfälliges Kassensystem. Die Folge? Artikel (hier und hier), die sich lesen, als würde der Turm gleich unter der Last schlechter Software in sich zusammenfallen.
Dabei könnte die Reaktion auch eine ganz andere sein: Man könnte sich schlichtweg freuen, dass eines der prominentesten Wahrzeichen Berlins endlich auch kulinarisch ernst genommen wird. Der Berliner Fernsehturm – jahrzehntelang eher Touristenmagnet mit drehender Aussicht und drehwurmverdächtiger Küche – bekommt mit dem Sphere eine neue Bedeutung. Endlich wird hier nicht nur geschaut, sondern auch gegessen – und zwar mit Anspruch. Dass der Prozess dahin nicht fehlerfrei verläuft, sollte niemanden überraschen. Viel eher sollte es uns freuen, dass überhaupt jemand den Mut hat, es in dieser Form zu versuchen.
Doch in Berlin reicht bekanntlich schon ein Wackler im Kassensystem, um eine mediale Miniaturkatastrophe auszulösen.
Wenn technische Probleme zur Skandalrhetorik werden
Das Problem ist schnell erklärt: Ein technisches Malheur betrifft ein paar Dutzend Gäste. Die Kommunikation zwischen Küche und Service hakt, Bestellungen gehen verloren, die Taktung ist aus dem Takt. Ärgerlich, zweifelsohne. Und gerade für ein Restaurant, das seinen Betrieb auf Präzision und Effizienz ausrichten will, sicher eine Herausforderung.
Aber ist das ein Fall für die überregionale Tagespresse? Wohl kaum.
Diese Art von Berichterstattung – dramatisch, ohne dramatisch zu sein – zeigt vor allem eines: Die Gier nach Erzählung ist größer als das Gespür für Relevanz. Es geht längst nicht mehr um Einordnung, sondern um Empörung. Und wenn die sich nicht von allein ergibt, wird eben nachgeholfen.
Kein Soft Opening – aber eben auch noch kein Selbstläufer
Wichtig: Das Sphere befindet sich nicht mehr in der Soft‑Opening‑Phase. Die liegt hinter dem Team. Aber genau in dieser Übergangszeit – wenn der volle Betrieb aufgenommen ist, wenn nicht mehr zehn, sondern 200 Gäste im Raum des Sphere sitzen – zeigt sich, was funktioniert und was nicht. Der Belastungstest kommt mit der Realität. Es ist ein Soundcheck unter Volllast. Und dass es dann irgendwo knarzt, sollte keine Nachricht, sondern eine Selbstverständlichkeit sein.
Zumal man im selben Atemzug betonen muss, wie professionell das Team auf die Schwierigkeiten reagiert: Gäste erhalten Rückerstattungen, Gutscheine, teilweise sogar neue Einladungen – mehr Kulanz geht kaum. Und doch wird der Fokus nicht auf die Lösung, sondern auf das Problem gelegt. Warum?
Jamie Oliver lässt grüßen
Dass dieses Muster kein Einzelfall ist, zeigt ein Blick auf die Eröffnung von Jamie Olivers Berliner Ableger im letzten Jahr. Noch bevor das Restaurant offiziell den Regelbetrieb aufnahm, wurden kritische Beobachtungen zu Generalurteilen verdichtet. Die Soft‑Opening‑Phase – also exakt jene Zeit, in der Fehler gemacht und behoben werden sollen – wurde kurzerhand als Beweis mangelnder Qualität herangezogen. Ein Betrieb im Aufbau wurde öffentlich zerlegt, bevor er überhaupt stabil laufen konnte.
Dass man ausgerechnet in Berlin auf solche Situationen mit solchem Furor reagiert, hat allerdings auch ein kulturelles Muster.
Berliner Schnauze: Erst kaputtreden, dann nachfragen
Es gehört gewissermaßen zum guten Ton, Dinge in dieser Stadt zunächst einmal in Grund und Boden zu reden. Man erinnere sich nur an die Wiedereröffnung des Gendarmenmarkts. Kaum waren die Bauzäune abgebaut, prasselten die Vorwürfe: zu viel Stein, zu wenig Grün, steril, versiegelt. Die Rede war von einer „Steinwüste“, von einem „Platz ohne Aufenthaltsqualität“. Dabei war das Projekt noch nicht einmal ganz abgeschlossen – Bäume fehlten, Wasserläufe ebenfalls. Dennoch war das Urteil gesprochen, bevor man überhaupt erleben konnte, wie sich der Ort im Alltag verhält.
Dasselbe nun beim Sphere. Ein aufwendiger Umbau, ein ambitioniertes Konzept, ein prominenter Name – und ein technisches Problem. Was folgt, ist kein nüchterner Hinweis, sondern eine Erzählung über Scheitern. Über das große Misslingen im Kleinen. Über die Möglichkeit, alles gleich wieder in Frage zu stellen.
Zwischen Boulevard und Besserwisserei
Dabei wäre die Geschichte auch anders erzählbar gewesen: als Beispiel für eine Stadt, die ein Wahrzeichen neu denkt. Als Ermutigung, kulinarische Ambitionen dorthin zu tragen, wo man sie nicht erwartet hätte. Als Zeichen, dass auch ein Fernsehturm Geschmack beweisen darf. Stattdessen: Fehlermeldung. Alarmismus. Und ein bisschen Häme.
Man fragt sich: Wann ist der Gastro-Journalismus eigentlich zum Erfüllungsgehilfen der schnellen Schlagzeile geworden? Warum zählt nicht mehr das, was entstehen soll – sondern nur noch das, was kurz nicht funktioniert?
Mehr Demut, weniger Drama
Ein defektes Kassensystem im Sphere ist kein Skandal. Genauso wenig wie ein noch unfertiger Platz ein städtebaulicher Unfall ist. Was daraus gemacht wird, sagt oft mehr über die Erzählenden als über die Erzählten. Und wer Restaurants liebt – wirklich liebt – weiß, wie schwer der Anfang sein kann.
Wenn der Berliner Gastro-Journalismus wieder Relevanz gewinnen will, braucht er nicht mehr Drama, sondern mehr Demut. Und vielleicht ab und zu die Einsicht: Nicht jede Schlagzeile ist eine Geschichte. Und nicht jede Panne ein Problem.