Die Weltköche zu Gast im Ikarus - Band 10
ca. 89 €Pros
- 18 internationale Spitzenköche mit sehr unterschiedlichen Stilen
- Tiefgehende Porträts inklusive philosophischer wie handwerklicher Einblicke
- Vielseitigkeit durch globale Perspektiven (USA, Japan, Südafrika, Europa etc.)
- Verständlich verfasste Rezepttexte trotz hohem Niveau
Contras
- Aufgrund der Vielfalt kein roter Faden im kulinarischen Stil – für manche Leser evtl. zu heterogen
- Teils nur schwer adaptierbar für Hobbyköche ohne Vorkenntnisse
Es gibt Konstanten, auf die man sich als Liebhaber der gehobenen Küche verlassen kann – das jährliche Erscheinen eines neuen Bands der Reihe Die Weltköche zu Gast im Ikarus gehört zweifellos dazu. Seit vielen Jahren sammle ich diese Bücher – zunächst erschienen unter der Collection Rolf Heyne, später vom Pantauro Verlag übernommen und mit frischem Elan weitergeführt. Nun liegt mit Band 10 ein Jubiläumswerk über das Restaurant Ikarus vor, das nicht nur die Kontinuität, sondern auch die Weiterentwicklung dieses einzigartigen Konzepts eindrucksvoll belegt.
In der aktuellen Ausgabe versammelt das Team rund um Martin Klein, Executive Chef des Restaurants Ikarus im Hangar-7, gleich 17 internationale Spitzenköchinnen und -köche, deren Handschrift nicht unterschiedlicher, aber durchweg wegweisend sein könnte. Ein Rückblick auf zehn Jahre, in denen Klein gemeinsam mit Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann über 266 Gastköche aus mehr als 30 Ländern nach Salzburg eingeladen hat, um ihre Philosophie, ihre Produkte und ihre Techniken auf die Bühne zu bringen – oder besser gesagt: auf den Teller.
Mit Band 10 geht diese Reihe in eine neue Runde – und sie feiert dabei sich selbst, ohne je selbstgefällig zu werden. Eine stilistisch weiterentwickelte Bildsprache, gewohnt hochwertige Gestaltung und ein thematisch vielfältiger Querschnitt durch die aktuelle internationale Spitzengastronomie machen dieses Buch zu mehr als nur einer Fortsetzung. Es ist ein Destillat aus einem Jahrzehnt kreativer Gastlichkeit – und ein Ausdruck des Vertrauens in die Kraft der kulinarischen Begegnung.
Ein Konzept wie ein Sehnsuchtsort
Wer als Koch oder Köchin auf der Suche nach der vielleicht spannendsten Bühne der internationalen Fine-Dining-Welt ist, landet unweigerlich beim Restaurant Ikarus im Hangar-7. Denn was sich hier Monat für Monat abspielt, ist in seiner Konsequenz wie Vielfalt weltweit einzigartig: Elf Monate, elf Gastköche, elf kulinarische Perspektiven – und im zwölften Monat übernimmt traditionell das Ikarus-Team selbst die kreative Regie.
Für die festangestellten Köche ist das ein Traumarbeitsplatz – und zugleich eine ständige Herausforderung. Denn wer hier arbeitet, taucht jährlich in elf völlig unterschiedliche Küchenwelten ein, lernt von Meistern ihres Fachs und setzt deren Menüs mit höchster Präzision um.
Das Prinzip: Martin Klein, Executive Chef seit 2014, reist im Vorfeld jeder Einladung persönlich zu den ausgewählten Köchinnen und Köchen, um das Konzept vor Ort kennenzulernen – die Philosophie, die Prozesse, das Produktverständnis. Zurück in Salzburg beginnt die Umsetzung: Der Gastkoch kommt für zwei Tage ins Restaurant Ikarus, präsentiert sein Menü, kocht es gemeinsam mit dem Team und übergibt anschließend den Staffelstab – das Team übernimmt und führt das Menü den ganzen Monat hindurch auf gleichbleibendem Niveau weiter.
In der aktuellen Jubiläumsausgabe begegnet man unter anderem Stefan Heilemann, Curtis Duffy, Simon Rogan, Kevin Fehling, Christian Kuchler oder Wolfgang Puck – allesamt Persönlichkeiten mit klarem Profil und internationaler Strahlkraft. Auffällig ist allerdings: Keine einzige Köchin findet sich unter den 17 porträtierten Gästen. Nach zehn Jahren Restaurant Ikarus und über 260 Gastköchen darf man für die kommenden Ausgaben hoffen, dass das Kuratoren-Duo Klein & Witzigmann auch in puncto Diversität künftig neue Akzente setzt.
Einen besonderen Mehrwert bietet in diesem Band das letzte Kapitel: Eine vollständige Übersicht aller Gastköche von 2003 bis 2024, ein beeindruckendes kulinarisches Archiv – und ein ehrlicher Rückblick auf zwei Dekaden gelebte Internationalität.
Köche & Restaurants aus Band 10 – Die Weltköche zu Gast im Ikarus
- Heinrich Schneider – Terra – The Magic Place, Sarntal, Italien
- Stefan Heilemann – Widder Restaurant, Zürich, Schweiz
- Ikarus Team – Restaurant Ikarus, Hangar-7, Salzburg, Österreich
- Curtis Duffy – Ever, Chicago, USA
- Fatih Tutak – Turk Fatih Tutak, Istanbul, Türkei
- Simon Rogan – L’Enclume, Cartmel, Vereinigtes Königreich
- Kevin Fehling – The Table, Hamburg, Deutschland
- Christian Kuchler – Taverne zum Schäfli, Wigoltingen, Schweiz
- Wassim Hallal – Restaurant Frederikshøj, Aarhus, Dänemark
- James Gaag – La Colombe, Kapstadt, Südafrika
- Viki Geunes – Zilte, Antwerpen, Belgien
- Wolfgang Puck – Spago, Beverly Hills, USA
- Javier Olleros – Culler de Pau, O Grove, Spanien
- Gareth Ward – Ynyshir, Eglwys Fach, Vereinigtes Königreich
- Matthias Diether – 180° by Matthias Diether, Tallinn, Estland
- Thomas Schanz – Schanz Restaurant, Piesport, Deutschland
- Franck Putelat – La Table de Franck Putelat, Carcassonne, Frankreich
- Thitid Tassanakajohn – Le Du, Bangkok, Thailand
Heinrich Schneider – Die Essenz des Waldes
Wenn Heinrich Schneider kocht, dann nicht um zu beeindrucken, sondern um etwas zu evozieren: den Duft eines regennassen Fichtenwalds, die Kühle eines moosigen Steigs, das flüchtige Aroma von Kräutern, die sich zwischen Steinen emporringen. Sein Restaurant Terra – The Magic Place, gelegen auf 1.600 Metern Höhe im Südtiroler Sarntal, ist kein Ort des Spektakels, sondern ein Ort der Verdichtung. Schneiders Küche ist radikal lokal, aber nie dogmatisch.
„Ich koche keinen Meeresfisch und keine Luxusprodukte, die von weit her kommen“, sagt er. Und doch wirkt bei ihm nichts reduziert, sondern vielmehr konzentriert. Die Natur ist seine wichtigste Rohstoffquelle, nicht nur im kulinarischen Sinn, sondern auch als ästhetischer Resonanzraum. Der florale Stil seiner Gerichte spiegelt diese Haltung wider – detailverliebt, geerdet, poetisch.
Auch in Salzburg blieb er seiner Linie treu. Sein Menü beginnt mit einer marinierten Regenbogenforelle, flankiert von Holunderblüten, Melisseperlen und einem Buttermilchgel. Schon hier wird deutlich: Schneider arbeitet nicht in Kontrasten, sondern in Abstufungen. Die Farbigkeit auf dem Teller ist präzise gesetzt, das Anrichten linear und klar, die Komposition leicht, aber spannungsvoll. Die begleitenden Komponenten – Holunderblütengelee, Liebstöckelemulsion, mikrofoniertes Zitronenmelissenaroma – fügen sich zu einem sensorischen Bild, das stark mit Assoziationen arbeitet.
Was beim Blättern auffällt: Die Rezeptstruktur wurde überarbeitet, wirkt luftiger, modularer. Weiße Flächen geben den komplexen Gerichten Raum, die einzelnen Arbeitsschritte sind klar separiert, die Zutatenlisten gut gegliedert. Zwar sind die Beschreibungen im Verhältnis zur handwerklichen Komplexität eher knapp, aber für geübte Leser:innen bleibt das nachvollziehbar – man richtet sich hier klar an ambitionierte Profis und versierte Amateure.
Auch fotografisch fügt sich Schneiders Tellerbild nahtlos in die gestalterische Linie des Bandes ein. Die Inszenierung bleibt ruhig, der Fokus liegt ganz auf dem Produkt. Helge und Patrick Kirchberger setzen wie gewohnt auf gedämpftes Licht, neutrale Hintergründe und eine präzise Bildsprache – nichts stört das visuelle Narrativ, das stark über Atmosphäre funktioniert.
Stefan Heilemann – Kochen mit Haltung, serviert mit einem Augenzwinkern
Im Zürcher Restaurant WIDDER wird präzise gearbeitet – und dennoch viel gelacht. Wer mit Stefan Heilemann spricht, merkt schnell: Hier steht kein verkrampftes Konzept hinter dem Teller, sondern ein Mensch, der sich bei aller handwerklichen Präzision vor allem eines bewahrt hat: Freude an der Sache. Und diese Freude zieht sich wie ein roter Faden durch sein Menü, das er im Juli 2023 im Restaurant Ikarus präsentierte.
Heilemann wurde nicht ohne Grund zum „Aufsteiger des Jahres“ gekürt, hält zwei Michelin-Sterne und gilt als einer der besten Köche der Schweiz. Aber wenn er über seine Küche spricht, dann geht es selten um Sterne oder Bewertungen. Dann spricht er von Teamgeist, Vertrauen und Leidenschaft. In seinen Worten liegt etwas angenehm Unprätentiöses – als ginge es ihm nicht um Applaus, sondern um Resonanz.
Sein Menü beginnt mit einem ausdrucksstarken Einstieg: Balfegó-Thunfisch, Gelado vom Oster-Gelrettich und Osietra-Kaviar, bevor ein Carabinero mit Tom Yum, Pak Choi und Erdnuss folgt – ein Gang, der mit seiner satten Koriander-Creme, frischer Limette und halbgetrockneten Tomaten nicht nur optisch explodiert, sondern geschmacklich ein klares Statement setzt: kraftvoll, mutig, balanciert. Meer, Säure, Umami und ein Hauch Exotik in einem harmonischen Zugriff.
Der Hauptgang – eine Miéral-Taube mit Roter Bete, Cassis und Entenleber – ist ein Paradebeispiel für Heilemanns Fähigkeit, Technik und Emotion miteinander zu verzahnen. Die Brüste der Taube werden sous-vide gegart und später auf der Hautseite kross gebraten. Die Entenleber wird zwischen Filoteigblätter gebettet und in heißem Öl goldbraun ausgebacken – ein Crunch, der auf der Zunge knistert. Die begleitenden Komponenten – von der intensiven Rote-Bete-Crème über die dunkle Cassis-Jus bis hin zur schaumig aufgeschlagenen Albufera-Sauce – lassen keinen Zweifel daran, dass hier jemand am Werk ist, der Klassik denkt und Zeitgeist atmet.
Auch in der Optik bleibt Heilemann seinem Stil treu: komponiert, aber nie überladen. Die Teller wirken durchdacht, strukturiert, fast architektonisch – mit gezielten Farbakzenten, Texturspielen und klaren Kontrasten. Das Foto des Gerichts unterstreicht diesen Eindruck: eine Bühne für ein feinsinniges Drama aus Farbe, Form und Aromen.
Wie schon bei Heinrich Schneider zeigt sich auch hier: Die Rezeptgestaltung im Buch folgt einer modularen Struktur, mit luftiger Typografie, klar getrennten Arbeitsschritten und einem nachvollziehbaren Aufbau. Die technische Dichte ist hoch, aber nicht abschreckend – ein Arbeitsbuch für Profis, das dabei dennoch ästhetisch genug bleibt, um auf dem Coffeetable zu bestehen.
Das Ikarus-Team – wenn die Crew übernimmt
Im August gehört die Bühne im Restaurant Ikarus keinem internationalen Gastkoch – sondern ganz allein dem Team selbst. Für viele Stammgäste ist dieser Monat der spannendste im Kalender, weil er Einblick gibt in das Innenleben der Brigade: in ihre Ideen, ihre Handschrift, ihre Kreativität. Und für die Crew selbst ist es der Moment, in dem das Gelernte des vergangenen Jahres in ein eigenes Menü mündet – mit voller Verantwortung.
Martin Klein formuliert es treffend: „Im August bin ich wie ein Fußballtrainer: Ich stelle die Mannschaft auf. Du schießt die Tore, du machst die Pässe.“ Die Gerichte entstehen nicht aus einem zentralen Konzept, sondern aus dem Zusammenwirken des gesamten Teams. Wer sich im Laufe des Jahres durch Eigeninitiative, Präzision und Kreativität hervortut, bekommt die Chance, einen Gang beizusteuern. Das ist mehr als symbolisch – es ist ein Zeichen der Wertschätzung und der gelebten Teamkultur.
Die kulinarische Linie des Ikarus-Teams bleibt dabei klar: produktbezogen, detailverliebt, überraschend. Beispielhaft steht dafür das Gericht „Forelle, Petersilie, schwarze Trüffel, Vanille, Rote Bete“, das sich durch eine präzise lineare Struktur und eine fast grafische Farbkomposition auszeichnet. Das Filet, kurz gegrillt, wird flankiert von einem Schneckengaragou, knusprigen Guanciale-Würfeln, Salz-Zitronen-Confit und Trüffelschaum. Ringsherum: abwechselnd getupfte Cremes von Vanille, Trüffel, Petersilie und Roter Bete – ein Arrangement, das visuell fast streng, aber zugleich verspielt wirkt.
Ebenso präsent und leuchtend: „Jakobsmuschel, Kalbshaxe, Tamarillo, Mango, Koriander“ – ein Gericht, das durch die sattgelbe Mango-Beurre blanc im Zentrum sofort Aufmerksamkeit bindet. Darin eingebettet: Jakobsmuscheln, geflämmte Tamarillo-Würfel, Tapiokaperlen, Mango-Chili-Gel, Korianderöl und eine grüne Kräuterkrone, die das Gericht wie einen Kranz zusammenhält. Technisch aufwendig, aber ohne technische Pose.
Und auch im Dessertbereich zeigt das Team, wie viel Substanz in seiner Arbeit steckt: „Gebrannter Zimt, Kohl, Preiselbeere, Sauerrahm“ ist kein klassischer Crowdpleaser – aber ein Statement. Die zentrale Halbkugel aus Zimtsahne mit Rotkohlkern wird in schwarzem Airbrush-Schokoladenüberzug serviert, begleitet von Sauerrahmeis, Nussbutterstreuseln und eingelegten Preiselbeeren. Ein Dessert, das visuell streng wirkt, aber in der Aromatik wärmt, fordert und versöhnt.
Die Eigenkreationen des Ikarus-Teams sind mehr als ein „Best of“ des Gelernten. Sie zeigen, wie eng hier Technik, Neugier und Teamgeist verwoben sind – und machen deutlich, dass dieses Restaurant nicht nur von großen Namen lebt, sondern von der inneren Stärke seiner Mannschaft.
Curtis Duffy – Reduktion als Ausdruck höchster Reife
Curtis Duffy ist einer dieser Köche, bei denen sich Biografie und Stil kaum voneinander trennen lassen. Seine Karriere begann klassisch amerikanisch: als Jugendlicher aus Ohio, der beim Abwaschen in einer Restaurantküche seine Begeisterung fürs Kochen entdeckte. Seine Lehrerin wurde zur Mentorin, der schulische Kochkurs zum Türöffner. Heute gilt Duffy als einer der sensibelsten Vertreter der amerikanischen Avantgarde – mit einem Gespür für Kompositionen, das sich nicht auf Effekte verlässt, sondern auf feine Nuancen.
Nach dem rasanten Aufstieg mit seinem früheren Restaurant Grace, das in Rekordzeit drei Michelin-Sterne erkochte, folgte der jähe Bruch. 2017 das Aus, 2020 der Neustart mit Ever – ausgerechnet mitten in der Pandemie. Doch genau dort, in einem unauffälligen Gebäude im Chicagoer West Loop, fand Duffy zu einer neuen Klarheit. Sein Credo: “The best food is cooked in the moment.”
Diese Haltung durchzieht auch sein Menü im Restaurant Ikarus. Keine Showküche, kein überhöhter Pathos – sondern präzise platzierte Ideen mit narrativer Tiefe. Besonders deutlich wird das im Gericht „Jakobsmuschel, Kokosnuss, Kürbis, Süßkartoffel“. Die gebratene Jakobsmuschel liegt in einer samtigen Kokosnuss-Sauce, flankiert von Süßkartoffelpavé, Kürbisgel, knusprigen Spiralen und kleinen Tupfen von Lauchöl. Die Präsentation: modern, aber nicht manieriert. Das Aromenspiel: mild, erdig, rund – Wärme statt Schärfe, Struktur statt Lautstärke.
Noch pointierter ist das Signature-Dish des Abends: „Miyazaki-Wagyu, Gurke, Dattel, Wasserkresse“. Duffy kombiniert kurz angebratenes Wagyu mit hauchdünn geschnittenem Rindertatar und setzt dem Ensemble eine grüne Grasnote durch Minzpüree, eingelegte Minze-Gurken und frische Wasserkresse entgegen. Der Clou: Beef-Tendon-Chips – kross ausgebackene Rindersehnen, die für texturalen Kontrast sorgen. Dazu ein Hauch gepuffter Maisgrütze und ein schwebend leichter Dattelschaum. Alles aufs Minimum konzentriert – und doch mit maximalem Effekt.
Duffys Küche erinnert an musikalische Kammermusik: jeder Ton sitzt, nichts wird doppelt erzählt. Die Teller wirken nicht dekorativ, sondern grafisch durchkomponiert. In der Bildsprache des Buches spiegelt sich das konsequent wider – der Hintergrund grau, die Farben der Speisen umso leuchtender. Die Reduktion wird zur Bühne, auf der Duffy seine Geschichte erzählt.
Simon Rogan – Vom Radieschen zum Gesamtkunstwerk
Es begann mit einem Radieschen. Ein unscheinbares Gemüse, das Simon Rogan in Großbritannien lange Zeit nicht in der Qualität bekam, die er sich wünschte. Und so kaufte er kurzerhand eine eigene Farm. Dieser pragmatische Schritt markiert den Anfang eines der radikalsten Farm-to-Table-Konzepte Europas – und ist bis heute Ausdruck einer kulinarischen Haltung, die sich nicht auf Worte verlässt, sondern auf Taten.
L’Enclume, Rogans Flaggschiff im nordwestenglischen Cartmel, ist mehr als ein Restaurant. Es ist ein Kreislaufsystem, ein Labor, ein Refugium. Hier geht es nicht um Regionalität als Etikett, sondern um die vollständige Rückführung der Küche an ihren Ursprung: den Boden, das Klima, den natürlichen Rhythmus. Dass diese Philosophie mit drei Michelin-Sternen und einem grünen Stern für Nachhaltigkeit ausgezeichnet wurde, ist verdient – aber für Rogan wohl eher Randnotiz als Selbstzweck.
Auch sein Menü im Ikarus (Oktober 2023) erzählt diese Geschichte. Es beginnt mit einem wunderbar zurückhaltenden Gang: Atlantik-Steinbutt mit Jakobsmuschel, Blumenkohl, Buttermilch und geräuchertem Hechtkaviar. Ein fast monochromes Gericht, in dem alles auf Gleichklang ausgelegt ist – Ton-in-Ton, mild in der Aromatik, klar in der Sprache. Der Fisch wird exakt gegart, der Muschelfond stützt die Buttermilch-Sauce, das Kaviar-Röstaroma setzt einen leisen Kontrapunkt.
Kontrastreich, aber ebenso stimmig: die Burgaud-Entenbrust mit fermentiertem Kalibos-Kohl und Roter Bete. Die Ente wird über Tage hinweg vorbereitet, mehrfach bearbeitet, gegart, geruht und schlussendlich mit dem fermentierten Kohl und eingelegter Bete serviert – ein Spiel aus erdigen, süß-sauren und gereiften Noten, das sensorisch in die Tiefe geht, statt vordergründige Effekte zu suchen.
Das Dessert schließlich wirkt wie ein stilisierter Herbstwald: Kamille, Kürbis und Sanddorn, eingefasst in Orange-Töne in mindestens fünf Abstufungen – gebackener Kamillekuchen, kandierter Kürbis, ein cremig-säuerliches Sanddornsorbet und eine Haselnuss-Infusion. Nur ein einziges Element durchbricht das Bild: eine aufgesetzte weiße Haselnusscreme, im Prinzip ein Espuma. Das Gericht wirkt wie ein Naturstillleben, in dem Farbe, Form und Textur in feinster Balance stehen.
Rogans Gerichte brauchen keine Dekonstruktion. Sie erklären sich selbst – durch ihre Haltung, ihre Herkunft, ihre Ruhe. Und genau deshalb wirken sie so nach.
Kevin Fehling – Die kontrollierte Freiheit des Perfektionisten
Mit Kevin Fehling kommt ein deutscher Drei-Sterne-Koch zu Wort, der früh verstanden hat, dass wahre Unabhängigkeit in der Gastronomie nur dort möglich ist, wo man sie sich selbst erschafft. Wer nicht länger im Korsett der äußeren Erwartungen kochen möchte, muss selbst entscheiden dürfen – und so gründete Fehling sein eigenes Restaurant The Table in Hamburg. Mit seinem offenen Raumkonzept hat er nicht nur architektonisch, sondern auch atmosphärisch neue Maßstäbe im Fine Dining gesetzt.
Bereits mit 17 Jahren, mitten in der Kochausbildung, setzte sich Fehling ein ambitioniertes Ziel: einen Michelin-Stern zu erkochen. Zwei Jahrzehnte später gilt er nicht nur als einer der profiliertesten deutschen Köche, sondern wurde auch als jüngster deutscher Koch mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet – und holte diese Auszeichnung auch an neuer Adresse in Hamburg zurück.
Das Menü im Restaurant Ikarus (Dezember 2023) ist ein Querschnitt durch Fehlings Handschrift – technisch anspruchsvoll, global inspiriert, aber stets mit einer deutschen Klarheit der Aromen.
Eindrucksvoll: der Gang „Aal nach japanischer Art – Unagi und geräucherte, ungestopfte Gänseleber, Nori, Wasabi, Shiso“. Fünf kleine Komponenten verschmelzen hier zu einem Miniatur-Gesamtkunstwerk:
• ein Gänseleberwürfel mit Shiso-Gelee,
• eine Nori-gerollte Gänseleberterrine,
• ein glasierter Unagi-Aal mit Reiscreme und gepufftem Reis,
• eine klassische Kombination aus Räucheraal mit Gänselebercreme auf Dashi-Gelee
• und ein Wasabi-Apfel als frische, scharfe Komponente.
Jede dieser Komponenten für sich ist bereits vielschichtig, gemeinsam jedoch erzählen sie eine aromatische Geschichte über Umami, Süße, Rauch und Frische, die sich in die Erinnerung eingräbt.
Fehlings Küche bleibt dabei nie ornamental. Sie ist durchdacht, kalkuliert und gleichzeitig lebendig. Das zeigt sich auch im Gang „Crêpinette von der Wachtel und konfierter Keule, Ratatouille-Kuchen, Sardine und Gremolata“ – ein Lehrstück in französisch-italienischer Fusion. Die konfierte Wachtelkeule wird zart gegart und flambiert, mit Knoblauchgel, Mandelsplittern und Pistazien getoppt. Dazu gesellt sich die Crêpinette, eine Farce aus Wachtelbrust, in Mangoldblätter gehüllt. Der Ratatouille-Kuchen bringt mediterrane Leichtigkeit, während die Gremolata-Hollandaise, ein Gel aus geräucherter Sardine, sowie Wachteljus und Spitzpaprikagel das Ganze erden und verbinden.
Was Kevin Fehling zeigt, ist kein Spiel mit Effekten. Es ist die radikale Reduktion auf das Wesentliche – aber mit perfektionierter Technik, präziser Aromenführung und einem Höchstmaß an gestalterischem Willen. Seine Gerichte wirken nie zufällig, sondern wie sorgfältig gesetzte Zeichen auf einer klaren Linie. Und genau das macht seine Handschrift so unverwechselbar.
James Gaag – Kulinarisches Theater mit Weltblick
„Food is our theatre. I hope you enjoy the show.“
So steht es auf einem handgeschriebenen Kärtchen, das die Gäste im Restaurant La Colombe in Kapstadt begrüßt – und was folgt, ist tatsächlich ein Akt kulinarischer Inszenierung, wie ihn nur wenige so beherrschen wie James Gaag. Der Südafrikaner mit deutschen Wurzeln versteht sich als Regisseur auf dem Teller: beste Produkte als Hauptdarsteller, ungewöhnliche Aromen als Dramaturgie, präzises Handwerk als Bühnentechnik.
Gaag liebt den Moment, in dem das Essen überrascht – visuell, aromatisch, textural. Und doch ist bei ihm nichts bloß Show. Substanz, handwerkliche Tiefe und Raffinesse machen seine Menüs aus. „Meine Küche ist von der Welt inspiriert“, sagt er. Einmal im Jahr schließt La Colombe für mehrere Wochen. Dann reist er mit seiner Küchencrew durch die kulinarischen Metropolen, besucht Märkte, beobachtet, probiert. „Ich will, dass mein Menü frisch bleibt – neugierig, offen, lebendig.“
Das Menü im Ikarus (März 2024) folgt genau diesem Anspruch – und beginnt mit einem echten Signature-Gericht: Bluefin Tuna ‘La Colombe’.
Der Thunfisch wird gleich auf zwei Arten serviert:
• als gebratene Rolle,
• sowie als Tatar in einer kleinen Dose angerichtet.
Die Kombination aus Wasserkastanien, Zwiebeln, Sushi-Ingwer, Avocado und Chipotle-Dressing wird dekoriert mit Avocadopüree, Chipotle-Mayonnaise, Kornblumenblüten, Salz-Zitronen-Julienne und Fingerlime-Perlen. Die dazu gereichte, charmant beschriftete „James’ Secret Sauce“ ist längst legendär – und im Buch erstmals rezeptiert.
Ein weiterer Höhepunkt ist der Gang Wachtel, Languste, Mais, Bisque.
Eine gefüllte Wachtelbrustroulade mit Langustenkern, kombiniert mit
• Wachtelkeule in asiatischer BBQ-Sauce,
• Salsa Machá aus gerösteten Chilischoten, Erdnüssen und Sesam,
• einer kraftvollen Tom-Kai-Bisque,
• Auberginenwürfeln, -creme,
• Maispüree und glasierten Edamame.
Ein vielschichtiges, warmwürziges Ensemble, das zeigt, wie pointiert Gaag Aromen kontrastieren kann, ohne ins Laute zu kippen.
Zum Abschluss wird es verspielt-fruchtig – und nochmals komplex:
Erdbeere, Fenchel, Joghurt.
Hier treffen Erdbeer-Sorbet, Joghurt-Panna-Cotta, Fenchelkuchen, Ruby-Ganache, Bergamotte-Gelee und geflämmte Meringue-Punkte aufeinander.
Das Ergebnis ist ein Spiel aus Süße, Säure, floraler Kühle und zartem Anis, das in Struktur und Farbe fast grafisch wirkt – ein stilvoller Schlussakt in einem Menü, das von Neugier getragen ist.
Fazit: Ein Jubiläumsband des Restaurant Ikarus
Die zehnte Ausgabe der Reihe „Die Weltköche zu Gast im Ikarus“ ist weit mehr als ein weiterer schöner Band im Bücherregal anspruchsvoller Küchenmenschen – sie ist ein beeindruckendes Dokument internationaler Kochkultur auf Spitzenniveau. Kuratiert von Martin Klein und ursprünglich initiiert durch Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann, versammelt das Buch 17 Köche aus aller Welt, die im Laufe der letzten anderthalb Jahre im Hangar-7 in Salzburg gastiert haben. Dass die Reihe sich längst zu einer Art kulinarischem Jahrbuch entwickelt hat, beweist auch dieser Jubiläumsband mit klarer Stimme.
10 Jahre, 266 Köche, ein Format mit Format
Das Konzept bleibt dabei seinem Ursprung treu: Elf Gastköch:innen pro Jahr reisen an, kochen zwei Tage selbst vor Ort, schulen das Ikarus-Team, das ihr Menü den restlichen Monat übernimmt. Der zwölfte Monat gehört traditionsgemäß dem Team um Martin Klein selbst – ein Kraftakt der internen Kreativität. Dieses Format, das einerseits Bühne ist und andererseits Labor, wird in dieser Ausgabe mit jener Sorgfalt dokumentiert, die man von Pantauro kennt – visuell wie redaktionell.
Haptik, Gestaltung & Fotografische Handschrift
Der Jubiläumsband hebt sich schon äußerlich ab: Der Buchrücken wurde mit einer glänzenden Folienprägung versehen – ein stimmiges gestalterisches Detail zum zehnten Geburtstag der Serie. Die kreisrunden Ausschnitte für die Portraits schaffen visuelle Kohärenz und verweisen auf die Idee der kulinarischen Bühne, auf der jede*r Koch/Köchin im Rampenlicht steht. Auch in dieser Ausgabe stammen die Fotografien von Helge Kirchberger und seinem Team – und sie überzeugen durch Schärfe, Kontrast und Natürlichkeit. Man merkt, dass hier jemand fotografiert, der das Sujet versteht, nicht nur ästhetisiert.
Inhalt & Zugänglichkeit
Das Buch gliedert sich, wie gewohnt, nach Köchen, wobei jedem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Das bedeutet: Wer ein bestimmtes Gericht sucht, muss gezielt blättern. Ein Sachregister oder Zutatenverzeichnis fehlt – ein klarer Wermutstropfen in einer ansonsten herausragend kuratierten Publikation. Die Rezepte selbst sind präzise aufbereitet, modular gegliedert und visuell hervorragend unterstützt. Ob man alle Komponenten auch ohne Vorkenntnisse oder Brigade nachkochen kann? Fraglich. Aber das will dieses Buch auch gar nicht.
Für wen ist dieses Buch?
Das Buch ist kein Küchenhelfer im klassischen Sinne – es ist ein Inspirationskorpus. Wer auf der Suche nach schnellen Rezepten ist, wird hier nicht fündig. Wer jedoch verstehen will, wie die weltbesten Köch:innen Geschmack, Technik, Handwerk und Philosophie zusammendenken – der wird dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen wollen. Es eignet sich als Ideenfundus für junge Köch:innen ebenso wie als kreative Initialzündung für erfahrene Profis, die über den Tellerrand ihres eigenen Restaurants hinausschauen wollen.
Natürlich: Die Zutatenlisten sind zum Teil ambitioniert. Produkte wie Wasserkastanie, Salz-Zitronen-Julienne, eingelegte Kalbszunge oder XO-Sauce findet man nicht im Bioladen um die Ecke. Aber auch das gehört zur Realität der Spitzengastronomie – und zur Wahrheit dieses Buches.
Gender Gap?
Auffällig – und leider auch symptomatisch für die Branche: Unter den 17 porträtierten Köchen findet sich keine einzige Frau. Gerade in einem Jubiläumsband wäre ein kuratorisches Statement denkbar und wünschenswert gewesen. Vielleicht ein Anstoß für Ausgabe elf?
Weitere Bücher findet ihr wie immer in meiner Rubrik Kochbücher.