Diese Kochbuchbewertung wird anders sein. Das hat einen bestimmten Grund. Denn als so richtig neutral kann ich heute nicht bewertet werden, habe ich doch viel Zeit in die Produktion des ersten Kochbuchs von Jan Hartwig investiert. Schon lange hegte ich den Wunsch, wegweisende und inspirierende Kochbücher mitzugestalten. Als in Gesprächen mit Jan Hartwig sowie Bruni Thiemeyer vom Matthaes Verlag der Gedanke entstand, dass ich einem der wohl interessantesten und besten Köche, die Deutschland derzeit zu bieten hat, bei seinem ersten Kochbuch helfen könnte, war die Versuchung für mich zu groß, als dass ich hätte ablehnen können. Somit schlug ich vor, das Lektorat für dieses Spitzenkochbuch namens Jan: Labor der Liebe zu übernehmen.
Dennoch möchte ich es heute für euch einigermaßen neutral besprechen.
Mein Kochbuchprojekt mit Jan Hartwig
Wer den Blog kennt, wird vermutlich wissen, dass eines der ersten Kochbücher, die ich hier besprochen habe, von keinem Geringeren als Sven Elverfeld stammt. Dieser Drei-Sterne-Koch mit dem 3-Sterne-Restaurant Aqua in Wolfsburg war lange Zeit sein Chef und Mentor. Circa acht Jahre lang war Jan zuletzt als Sous Chef tätig. Die letzte Station vor seinem ersten eigenen Restaurant war das Atelier in München. Dort erkochte er in Rekordzeit die heiß begehrten drei Sterne im Guide Michelin.
2022 erfüllte er sich dann den Traum, sein erstes Restaurant zu eröffnen. Aus dem Stand heraus gelang ihm in allen großen Restaurantführern die maximale Punktzahl: drei Sterne im Guide Michelin, 5 Hauben im Gault Millau, 10+ von 10 Pfannen im Gusto, 5 Fs im FEINSCHMECKER, 97-98 Punkte beim Falstaff und fünf Hs im Großen Guide. The sky is the limit.
Im großen Restaurant-Ranglisten-Vergleich katapultiert ihn diese Leistung auf den achten Platz – und das als selbstständiger Neueinsteiger. Im gleichen Zeitraum produzierte er nebenbei ein Kochbuch. Was dieser Mann nicht kann, bleibt sein Geheimnis. Was er kann, insbesondere wenn es um das Kochen geht, zeigt er in dem neuen Kochbuch aus dem Hause Matthaes.
Jans Weg an die Spitze
Ich kenne Jan Hartwig bereits seit meiner ersten Kochbuchbesprechung für das Werk von Sven Elverfeld, also nun fast schon 13 Jahre. In dieser Zeit habe ich ihn immer wieder zu verschiedenen Anlässen getroffen und mich mit ihm über Kulinarik und aktuelle Themen ausgetauscht. Für mich ist es sehr erstaunlich, dass er es innerhalb kürzester Zeit geschafft hat, seine eigene kulinarische Identität zu finden, die sich so überhaupt nicht mit der seiner ehemaligen Küchenchefs vergleichen lässt. Oft haben junge angehende Spitzenköche die große Herausforderung, eine eigene Handschrift zu entwickeln, die sich stark von der Stilistik ihrer ehemaligen Chefs abhebt.
Bei Jan Hartwig ist dies in undenkbar kurzer Zeit vollzogen worden. Das mag wohl darin begründet liegen, dass Jan ein furchtbar talentierter und zielstrebiger Herdkünstler ist.
Jans Küche basiert vor allem auf der klassischen französischen Kochkunst. Sie ist geprägt von großem Detail, präziser Arbeitsweise und der konsequenten Suche nach dem besten Produkt, das idealerweise aus der Region stammt. Sie wird inspiriert durch viele Kindheitserinnerungen, Einflüsse durch eigene kulinarische Erlebnisse oder durch gute und außergewöhnliche Produkte. Einzig und allein die Saison, welche die ausgewählten Produkte zur Verfügung stellt, diktiert ihm Grenzen. Ansonsten gibt sich Jan sehr weltoffen und grenzenlos.
Klassische, französische Küche in modernem Gewand
Bei ihm gibt es beispielsweise keine dekonstruierten Teller, die bei jeder Gabel einen anderen Geschmack vermitteln. Ganz im Gegenteil: Seine Gerichte sind so aufgebaut, dass sie vom Anfang bis zum Ende gleich schmecken. Das ermöglicht viel Kontrolle über den finalen Geschmack. Denn oben beschriebene Gerichte, bei denen es viele Cremetupfer hier und einzelne Chips dort gibt, sind sehr abhängig davon, wie der Gast mit der Gabel durch den Teller fährt, wenn es um den Geschmack geht.
Für die Visualisierung dieser großartigen Gerichte in Jan: Labor der Liebe, deren Rezepte in die Gänge (Snack, Amuse Bouche, Vorspeise, Fisch…) unterteilt sind, hat man keinen Geringeren als den derzeit wohl angesagtesten Fotografen namens Pieter D’Hoop engagiert. Seine ausdrucksstarken Bilder bringen die vielen kleinen Details hervorragend zur Geltung. Die natürlich anmutenden Fotos der Speisen werden begleitet von schwarz-weiß Bildern des Services im Reportagestil.
Bekannte und neue Signature Dishes
Wer weiß, wie aufwändig und komplex teilweise Rezepte der klassischen französischen Küche sein können, wird nicht überrascht sein, wenn einige Rezepte auf mehreren Doppelseiten verteilt sind. Die Rezepte sind klar strukturiert, funktional, gut aufgemacht und obendrein von keinem Geringeren als Jürgen Dollase beschrieben. In einem kurzen Statement wird zu jedem Gericht von Jan Hartwig selbst und von J. Dollase das Gericht und dessen geschmackliche Entfaltung umschrieben. Das hilft insbesondere der professionellen Leserschaft dabei, die Aromen und deren Zusammenspiel zu verstehen. Nicht, um diese simpel für eigene Gerichte nur nachzukochen, sondern um diese für die Adaption bei eigenen Gerichten zu verstehen und anzuwenden.
Wenn heute Kochbücher veröffentlicht werden, kommt es oft vor, dass bereits in sozialen Medien als auch anderswo im Internet viele Bilder gezeigt worden sind, sodass das Öffnen eines neuen Kochbuchs nicht immer den gleichen Aha-Effekt von neuen Gerichten haben dürfte.
Wenn heute Kochbücher veröffentlicht werden, kommt es auch vor, dass einem die Gerichte bekannt sind. Denn nicht selten wurden auf sozialen Plattformen bereits Bilder dieser Gerichte gezeigt. Auch bei Jan dürften einige Signature Dishes den einen oder anderen interessierten Leser im Netz schon erreicht haben. Da jedoch dieses Buch eine große Menge an Rezepten enthält, gibt es auch hier viele ungesehene Gerichte, die mir selbst noch nicht bekannt waren.
Mit Kommentaren von Jürgen Dollase und Jan selbst
So zum Beispiel der „Zander vom Schliersee“ mit Mönchsbart, Champignons und Muschel-Beurre-Blanc. Dazu sagt Jan: „Ich mag die Kombination von Fisch und Fleisch. Ich finde aber, dass der Zander nicht so stark kontrastiert werden darf. Er ist ein toller Fisch, hat aber nicht die Ausdrucksstärke wie etwa eine Rotbarbe. Die Kalbskopfzubereitung gibt ein wenig fleischige Rustikalität in das Gericht. Trotzdem behält der Zander sein Eigenaroma, er wird umschmeichelt und dabei noch etwas von diesem Sagohashi-Spray mit seinem Aroma von Salz und Koji verstärkt. Ein Spray bringt dabei immer wieder – wie die Salzlake beim Einlegen – eine gleichmäßige Würze, die viel besser zu dosieren ist.
Jan: Labor der Liebe mit Kommentaren von J. Dollase
Der Kommentar von Jürgen Dollase zu diesem Gang ist: „Geschmack: Natürlich ist und bleibt hier der Fisch das Hauptprodukt. Das gelingt hier vor allem deshalb, weil die Haut entfernt und der Fisch quasi konfiert wird. Normalerweise bekommt man ihn oft mit gebratener Haut. Da schmeckt man dann eigentlich nur die Haut und nicht den Fisch. Hier geht es auf eine milde, dabei aber durchaus würzige Ebene – vor allem mit der leicht geräucherten Beurre Blanc, dem Hauch von Liebstöckel in der Mayonnaise und dem Mönchsbart, der hier wie eine feinere Variante vom Queller/Salicorne wirkt.“
So kann man gut erkennen, wie die unterschiedlichen Kommentare der beiden das Rezept aufwerten. Die inspirativen Eingebungen von Jan werden mit den analytischen Gedanken von Jürgen Dollase ergänzt.
Es finden sich neben bekannten Gerichten wie der Tellersülze mit Räucheraal, Forelle & Wurzelgemüse oder der soufflierten Wachtelbrust mit Lauch, Lebermousse & Vin Jaune viele ungesehene Teller, wie der „Tourte de Pigeon“, einer in Mürbeteig gebackenen Taube mit Foie Gras, Spitzkohl und Morcheln in Sauce Albufera oder den „Saibling vom Schliersee“ mit Steckrübe, Saiblingsleber, Wurzelgemüse und Safranvinaigrette.
Hin und wieder kann man gerade in Kochbüchern die Achillesferse guter Köche ausmachen. Das ist oft die Patisserieecke, bei der dann die Gerichte etwas abflachen – doch bei Jan ist das ganz und gar nicht der Fall.
Großartige Desserts
Der Bereich der süßen Gerichte ist phänomenal und rundet das Buch wunderbar ab. Jede einzelne Komposition ist in sich ein kleines Kunstwerk. Sei es die sehr anmutige, reduzierte Version einer Schwarzwälder Kirschtorte oder der aufwändig gestaltete „Karamellisierte Opalys“, dessen Basis ein Schokoladenganache-Donut ist, den er mit einem Zitruschutney, einer Honigwabenhippe, Schokoladencreme, Oliven-Gummibärchenwürfel, Ingwereis, Schokoladenhippe, Olivenkrokant und einer Schokoladenolive belegt, bevor das Dessert dann fertig ist. Nicht nur geschmacklich, sondern auch visuell ist der „Schneeball“ ein Traum.
Ein Dessert mit Litschisorbet, Macadamiaganache, weißem Schokoladenbiskuit, einem luftigen Kokosespuma, das mit einem Sud von Blauem Anchan Tee aufgegossen wird.
Selbst Käse hebt Jan auf ein ungeahntes Niveau. Sein Käse stammt von „Jamai Laibspeis“ und mit der Käsecreme, die vom „Herrn Direktor“ mit Gruyère und Crème de Bresse zubereitet wird, zaubert er einen geschichteten Käseriegel mit Blütenpollencreme und schwarzer Limettencrème. Dazu dressiert er Biergel und Käsecreme. Nicht weniger anmutend ist die „Ureiche“ mit Bittersalaten und gerösteter Zwiebel. Auch dieser Käse stammt von „Jamai Laibspeis“.
Fazit zu JAN: Labor der Liebe
Fazit zu JAN: Labor der Liebe: Das erste Kochbuch von Jan Hartwig ist zweifellos eines der besten Kochbücher dieses Jahres. Die umfangreiche Rezeptsammlung, die dem Vorwort von Jürgen Dollase folgt und die wiederum jedes Rezept einzeln mit Jan besprochen hat, ist gemessen am Preis und der Qualität der gezeigten Gerichte beeindruckend. Ebenso beeindruckend ist die Fotografie von Pieter D’Hoop, der auf den Punkt abliefert.
Sehr schön ausbalanciertes Licht, tolle Farben und harmonische Kontraste. Es stören auch keine Bildaufbauten, die rechts und links neben dem eigentlichen Star nur ablenken würden. Die Reportagefotografie, die in schwarz-weiß gehalten ist, wirkt authentisch und zeigt sehr schön den Abendservice im sogenannten „Labor der Liebe“. Die Rezepte sind zweifellos nicht so ohne Weiteres zu Hause nachzukochen. Hier wird aus den Vollen geschöpft. Das erfordert natürlich eine gewisse Grundausstattung und ein profundes Grundwissen in Bezug aufs Kochen. Daher richtet sich das Kochbuch vor allem an Profiköche und sehr ambitionierte Hobbyköche. Für 78 € kann das in Leinen eingeschlagene Buch schon bald dir gehören. Anfänglich war es direkt nach Verkaufsstart bei diversen Händlern vergriffen. Das ist ein sehr gutes Vorzeichen für ein außerordentliches Kochbuch. MUST HAVE!