Die „sternefresser“ sind aus der kulinarischen Onlinewelt wohl nicht mehr wegzudenken. Sie testen seit Jahren (2005-2013) Restaurants der besternten Szene auf Herz und Nieren. Viele andere Restaurant- Blogger folgten ihnen mehr oder weniger gut und so sind sie längst nicht mehr allein auf diesem Feld, möchte man meinen.
Doch weit gefehlt, denn sie haben ein eindeutiges Alleinstellungsmerkmal. Es wird nicht nur kritisiert, positiv wie negativ, man geht gar einen Schritt weiter, es wird sich stark eingemischt.
Sie entwickeln Wege für einen besseren und direkteren Austausch zwischen ihrer selbst immer wieder neu zusammen gestellten Elite, welche auch so schon die nationalen Standards regelmäßig in erheblicher Weise vorantreiben. Das Podium derer nennt sich „CookTank“ aus dem wiederrum, aufgrund der immer stärkeren Gewichtung der Desserts, ein Ableger namens „SweetTank“ ganz allein für die Patissiers entstanden ist.
Diese geschaffenen „Denkfabriken“ haben vordergründig den Zweck, einen lockeren und ungezwungenen Rahmen zu schaffen, um so einen enthemmten und offenen Dialog zu ermöglichen.
Eingeladen wurde ich zur zweiten Edition des „SweetTanks“ in Wolfsburg. Schauplatz war das dort beheimatete Restaurant Aqua mit seinem Gastgeber Sven Elverfeld. Insgesamt zehn Patissiers neben einigen Mitarbeitern waren geladen, davon erlangten drei den Zutritt über eine sogenannte „Wildcard“, welche über eine Bewerbung durch Einreichung eines Desserts samt Bild und Rezept gewonnen werden konnte. Folgendes Menü, allesamt unter dem Motto: „Interpretationen von Klassikern“, stellten die Auserkorenen ihres Fachs zusammen:
„Interpretationen von Klassikern“
1. La Mer | Niko Langner: „Baba au rhum“
2. Holbein`s | Benjamin Kunert: „Apfeltarte mit Fenchel und Rose“
3. Aqua | Eric Räty: „Lemon pie“
4. Dallmayr | Eugen Stichling: „Erdbeerkuchen“
5. Vendôme | Andy Vorbusch: „Hamburger Rote Grütze“
6. Schwarzwaldstube | Pierre Lingelser: „Geräucherte Schwarzwälder Kirschtorte“
7. Schwarzwaldstube | Matthias Spurk: „Geeister Armer Ritter“
8. Schloss Berg | Tim Tegtmeier: „Milchreis“
9. Sternefresser | Axel Herrmann: „Rüblikuchen“
10. Falconera | Daniel Bodamer: „Crêpe suzette mit Fenchel“
Diese Gänge waren größtenteils vorbereitet und vor Ort nach und nach unter öffentlicher Begutachtung eines jeden angerichtet. So ließ sich sehr genau nachvollziehen, wie die Gerichte im Einzelnen aufgebaut waren. Ein unmittelbarer Gedankenaustausch folgte der anschließenden Degustation. Dabei wird jede einzelne Zusammenstellung, welche prinzipiell neu und ungesehen zu sein hat, vom Schaffer erklärend vorgestellt und eventuelle Stärken und Schwächen von den Anwesenden im Dialog ausgetauscht.
Der Urheber muss also Rede und Antwort stehen. Das klingt furchtbar rigide und drastisch ist in diesem Rahmen aber alles andere als das. Es ist ein ausnahmslos kollegialer teilweise zurückhaltender Umgang,… leider. Ein wenig mehr kontroverses und vor allem auch geäußertes Gedankengut führe mit Sicherheit ein Stückchen weiter.
Man holte sich vermutlich auch deswegen mit Herrn Matthies einen bekannten Restaurantkritiker in die Runde. Er weiß souvrerän die Gerichte rasch einzuschätzen und die entscheidenden Fragen zu stellen. Deswegen sind wohl Kritiker seiner Art als bereichernder Teil einer solchen Gruppe zu sehen.
Den Auftakt machten die Jungs vom Restaurant „La Mer“, welche sich dem „Baba au rhum“ widmeten. Gleich zu Beginn wird klar, dass sich gerade auch die Patisserie auf den neuesten Stand der Technik gebracht hat. Die heute gezeigten Desserts leben von der Wandlung und Neuinterpretation. So werden hier die Bestandteile aufgespalten und das Herzstück, ursprünglich der mit Rum getränkte Napfkuchen, ist quasi nur als ein Beiwerk zu betrachten. Die einzelne Gewichtung der Komponenten wurde komplett verworfen und neu verteilt, so gilt hier den Milchtexturen, wie z.B. der getrocknete Milchschaum, ein besonderes Augenmerk. Der Rum wurde mit Gelatine abgebunden und in geschnittener sowie gepresster Form dargeboten.
Der Verzehr eines Dessertmenü klingt in der Handhabung zuerst relativ simpel, man merkt aber sehr schnell, spätestens nach dem dritten Gang, dass hier ein bedeutend höheres Maß an Konzentrationsfähigkeit von Nöten ist. Die Geschmacksnuancen sind teilweise kaum zu schmecken, aber für das Gesamtbild immens wichtig. Eine geschärfter Sinn für Sensorik ist notwendig, und dieser konstant das gesamte Menü hindurch. Und so war das Chili von S. Elverfeld nach dem fünten Gang ein ersehnter als auch pikanter Gaumenschmaus und brachte die dringende Neukalibrierung der Geschmacksknospen mit sich. Das Chili durfte aber nicht fotografiert werden, da galt eine konsquente Fotosperre.
Der in zwei Akten gehaltene Vortrag von Prof. Vilgis hatte neben Themen wie „Zucker und seine Bindekraft“ oder „Allergien und Unverträglichkeiten“ auch die Komplexität eines Gerichts auf dem Schirm. Er teilte mit uns seinen Kenntnisstand über den Versuch die Varianz und Vielschichtigkeit eines Gerichts in einer Formel zu beschreiben. Sie ist noch nicht vollkommen, da ihm noch zwei Unbekannte fehlen, noch dazu ist eine davon der Konsument. Dieser hat in Zeiten der völligen Dekonstruktion bekannter Klassiker wie diesen die nicht zu unterschätzen Möglichkeit das Gericht im Geschmack nach seinem Gusto zu verändern.
Jeder Ritt mit dem Besteck, je nachdem wie dieses über die Tellerlandschaft geführt wird, kann ein Dessert in Bezug auf den Geschmack komplett anders darstellen. Früher neigte man eher zu der Anrichteweise, welche vorsah, dass ein Dessert, wie zum Beispiel eine Apfeltarte, von der ersten bis zur letzten Gabel gleich schmeckte. Das lag prinzipiell an der „simplen“ Anrichteweise. Heutige Kompositionen arten teilweise in Materialschlachten aus. Höchst diffizile und dadurch auch für Außenstehende zuerst schwer nachvollziehbare Kreationen entstehen dadurch. Der Mehrgewinn ist so erst nicht ersichtlich, der Nutzen wird folglich in Frage gestellt.
Eines Besseren belehrt werden diese letzten Zweifler oft bei dem ersten Bissen. Ein wunderbares Beispiel für solch einen Gang ist die „Lemon Pie“ vom sage und schreibe erst 24- jährigen Eric Räty, dem hauseigenen Patissier und Nachfolger von Nadja Hartl. Das höchst abwechslungsreiche Spiel zwischen Süße, Säure und einem milden Salzgeschmack in Verbindung mit kalten und warmen Komponenten bereiten es einem nicht gerade leicht dieses Wechselbad der Aromen und Texturen in Worte zu fassen.
Da wäre man doch umso glücklicher, man hätte Prof. Vilgis` fertige Formel, so könnte man diesem Gang sehr einfach einen Wert für die unbeschreibliche Komplexität berechnen. Er wäre ganz sicher hoch.
Ein weiteres schönes Beispiel für solch eine Tiefe ist das Dessert von Andy Vorbusch. Wie kaum ein anderer verfolgt er im Restaurant Vendôme eine höchst präzise und hochtechnisierte Arbeitsweise, welche maßgeblich ein sinnvolles und auch stimmiges Endprodukt als Ziel vorsieht. Seine „Hamburger Rote Grütze“ überrascht mit einer seltenen und für mich so noch nicht gekannten Textur, welche über den Prozess der Gefriertrocknung entstanden ist. Seine so neu dargestellte Vanillesauce, welche begleitend zu seiner äußerst erfrischenden Variante der norddeutschen Süßspeise gereicht wurde, schaffte es alt bekannte Geschmäcker mit gänzlich ungewohnten Begleiterscheinungen, in diesem Fall auf gewisse Weise knusprig und zartschmelzend zugleich, zu transportieren.
Das dritte hier näher vorgestellte Dessert von Benjamin Kunert aus dem Frankfurter Restaurant Holbeins wurde angelehnt an das allseits berühmte Tarte Tatin. Er geht in seiner Variante den Mittelweg. Eine nicht allzu avantgardistische Darbietung wird hier gepaart mit Details aus der Gemüsewelt. Fenchel wurde hier zusammen mit den fein aufgeschnittenen Äpfeln geschmort, dazu noch als Eis gereicht und abrundend der Teller mit dem Fenchelgrün ausgarniert. Auch ist diese Tarte nicht warm, sondern eisgekühlt und ist so durchaus auch als frisches Sommerdessert denkbar.
Zieht man Resümee aus dieser Runde, bleibt neben all der Anerkennung dieses Ereignisses unter den einzelnen Teilnehmern die grundsätzliche Sympathie zu Zusammenkünften wie diesen, welche enorm viel für den Austausch und die gewinnbringende Wissensweitergabe bewirken. Bleibt abzuwarten, welche Teilnehmer für den nächsten SweetTank auf der Liste stehen. Ich empfehle mich jetzt schon!
Quellenangaben:
© der Folie – Thomas Vilgis | Das Molekül-Menü – Molekulares Wissen für kreative Köche | Hirzel Verlag, Stuttgart 2010
Besten Dank für diese tollen Einblicke, die deutlich machen, was Koch-Kunst sein kann.
Diese Einblicke verbunden mit der Erklärung der Gänge, können dem nicht Vertrauten einen guten Einblick geben, und zeigen so ganz gut auf, dass zwar teure Maschinen eingesetzt werden, letztendlich aber in denen immer noch nur mit Wasser gekocht wird. 😉
Ganz großer Bericht, vielen Dank. Der Fenchel wurde wirklich geschmort, also mit Röstaromen? Das wäre mutig im Dessert. Oder doch gedünstet?
Der Fenchel wurde sehr fein aufgeschnitten und mit den Apfelscheiben im Karamell gekocht bis beides glasig ist .Dann füllt man die gekochten Äpfel und Fenchelscheiben in ein großen Einsatz, deckt sie ab und schmort alles im Ofen bis die Apfelscheiben leicht“soufflieren.Dann lässt man das ganze abkühlen .Sobald es vollständig ausgekühlt ist ,kann man die Schnitte portionieren
Einfach wunderbar, der Pâtissier selbst äußert sich zu seiner Kreation. Danke Benjamin!
Boah, lecker. Mir tropfen alle Zähne, nicht nur einer. Wie kommt die Rose ins Spiel?
Tausend Dank an Benajmin!
Das ist pure Kunst fürs Auge! Für den Gaumen ja sowieso. Vielen Dank für die schöne Nachbereitung! LG David
Der espuma auf der Schnitte ist mit Rosenwasser parfümiert .
Nochmals ein Dankeschön an Benjamin. Sehr inspirierende Kombination. Schon beim Lesen merkt man: Das ist eine aufregende, frische Paarung zwischen Apfel, Rose und Fenchel. Chapeau!
Danke für den interessanten Bericht 🙂 Warum durfte denn das Chili nicht fotografiert werden? As habe ich nicht ganz verstanden.
Liebe Grüße von Barafra