„Ich komm` mit diesem Buch nicht klar“, dachte ich jedenfalls die erste Zeit nach dem ich es geliefert bekommen hatte. Dieses Buch liegt nun schon verhältnismäßig lange in meinem Bücherregal. Ich versuchte eine gewisse Zeit dieses Buch in bekannte Schemata einzuordnen. Ich habe es aufgegeben. So wenig wie man Tim Raue in eine Schublade drücken kann, genauso wenig ist es möglich diesem Buch einen Stempel aufzudrücken. Ich hatte am Anfang den Fehler begangen, genau dies zu versuchen. Jetzt komme ich damit klar!
“Tim Raue – My Favorite Things″
Tim Raue
Fotografie: Luzia Ellert
Gestaltung: Seidldesign
Collection Rolf Heyne
München 2012
560 S., gebunden, 75,00 EUR
ISBN: 978-3-89910-547-6
Schon das Auspacken war mit Irritation verbunden. Die mit dem Preis verbundene Erwartungshaltung pegelte sich ungefähr da an, wo mit Christian Bau und Sven Elverfeld gerade zu riesige Bände der Leserschaft zur Vergfügung gestellt wurden. Ich entnahm der Sendung ein vergleichsweise kompaktes Buch in einem Schuber. Die erste Begegnung im leuchtend grünem Stoffeinband signalisiert mir schon:“HIER BIN ICH UND ICH BIN ANDERS“.
Und ich kann mir Tim Raue dabei leiblich vorstellen. Gerade in der Präsentation liegt auch seine Stärke. Wie wird es mit diesem Buch sein?
„Dieses Buch bin ICH.“
Nahtlos geht es dann ans Eingemachte. Einer seiner „Signature Dishes“ gibt direkt bei den Vorspeisen den Auftakt. Dem Rote- Bete Baiser mit Imperial Kaviar und Schnittlauch dürfte man schon in seiner Zeit im Restaurant MA im Adlon begegnet sein. Die pikante Luxusvariante dieses französischen Klassikers ist nur ein kleines Beispiel für den kulinarischen Spannungsbogen, welchen man auf den folgenden Seiten begegnen wird.
Gerade beim Anrichten ist sofort ein klarer und wohl strukturierter Stil erkennbar. Während man bei Christian Bau oder Thomas Bühner eine regelrechte Materialschlacht in Bezug auf die Komplexität und dem vielfältigen Einsatz einzelner Produkte in nur einem Gericht erfährt, nicht selten kommt ein solcher Teller dann mit ca. 20 bis 24 Elementen aus, bestechen die Gerichte eines Tim Raues durch puristische Eigenschaften. Schnörkellos und präzise ist die Anrichteweise. Teilweise fast schon banal, wie der Schweinebauch Sichuan.
Geschmacklich baut er seine Küche auf den drei Säulen Salz, Säure und Schärfe auf.
Gepaart werden die Gerichte einleitend mit einem Zitat oder Bekenntnis zu diesem und jenen Gang, nicht selten auch geschwängert von Eigenlob. Es wird dargestellt auf einer Art Schablone, welche erste Einblicke auf den kompletten Gang erlaubt, und darüber hinaus die bestimmenden Akzente eines jeden Gangs herausarbeitet. Das können geschmacklich bedeutende Komponenten sein, aber auch designtechnische Pointierungen.
Dabei drängt sich immer wieder dieser eigensinnige Stil hindurch, der mit der Tradition der klassischen Kochbücher bricht. Das Bild des „Grünen Spargels“ beispielsweise wird komplett in selbiger Farbe gerade zu ertränkt.
Das darauf folgende Kapitel hat in dieser Klasse der Sterneköche wohl nationalen Seltenheitswert. Seine hier dargestellten Dim Sum sind hochgelobt und schon alleine deswegen wohl eine Reise wert. Man sollte aber nicht zu spät aufstehen, er bietet sie in seinem Restaurant nur zum Mittagstisch an.
Für Tim Raue ist der Teller seine Leinwand. Er schwört auf handgemachtes Porzellan, welches so eine eigene Seele entwickeln kann. In diesem Buch wird der Leser mit einem ganzen Arsenal an verschieden gebranntem Geschirr konfrontiert. Das geht vom einfachen edlen weißen Porzellan bis hin zum quitschbunt gepunkteten tiefen und mit breiter Fahne versehenen Teller. Von beeindruckend schönen Tellern mit Relief bis hin zu hölzernen Platztellern für einfache elegante Schalen.
Luzia Ellert hatte man für dieses Projekt gewonnen und solch einen eigenwilligen und nicht alltäglichen Stil darzustellen, stelle ich mir als eine ganz besondere Herausforderung vor. Zwei Wochen in der Hauptstadt mussten reichen um dieses Sammelsurium aufzunehmen. Statt auf weiche Linien setzt sie mit Ausnahmen auf kontrastreiche Aufnahmen mit kontroversen Licht- & Schattenspielen. Sie taucht die Speisen unter Einsatz kräftiger Farbenverläufe in stimmungsvolle Szenerien, welche die Gerichte unterstützen. Teilweise wird sie dabei auch kitschig und setzt Blümchendecken ein. Die Farben bleiben aber Ihr stärkstes Ausdrucksmittel und mit dem trumpft sie voll auf. Ich vermute den meisten Lesern wird es gar nicht auffallen, da ihre Gestaltungselemente eher unterschwellig und unauffällig auftreten, da steckt aber ein enormes Maß an Erfahrung und Wissen dahinter, Essen so darzustellen. Wirklich einzigartig diese Fotografie.
Gerade auch die abschließenden Desserts sind als Konzept mit Alleinstellungsmerkmal zu betrachten. Die Art von Dessertkreationen welche Zutaten wie Yuzu, Sushireis, Pondocherry- Pfeffer, Marukanessig oder Azukibohnen vorsieht, kenne ich so von keinem Zweiten.
Tim Raue wäre nicht Tim Raue würde er nicht noch etwas mehr zu zeigen haben, als seine blanken Rezepte. So liefert er im Anhang neben einigen Grundrezepturen und Einblicken in die magentafarbene Küche 10 eindeutige Statements über „Glück“, „Die Berliner Luft“, „Archaik“ oder auch Punkte wie „Maßstäbe“, „Grenzen“ und „Struktur“.
Mit diesem Werk ist dem Verlag Collection Rolf Heyne es geglückt, Tim Raue eine der individuellsten Visitenkarten in die Hand zu geben. In allen Fragen, Foto – Design – im tiefsten Sinne einzigartiger Inhalt, formidabel. Ob die recht dünnen aber dem Format und dem Gewicht geschuldeten Seiten funktionell sind, wird die Langzeitstudie zeigen. Diese Momentaufnahme wird mit Sicherheit die verdiente Beachtung und seine Leserschaft finden.
PS: Um das Thema der Verwendbarkeit und Funktionalität der Bücher aufzugreifen, wird dieses Buch wieder die Leserschaft in die zwei klassischen Lager spalten. Ich bin der Meinung, dieses und auch jedes andere Kochbuch darf nicht zum Ziel haben nachkochbar für Jedermann zu sein. Wir könnten uns so von der Schwemme der alltäglichen Bücher nicht retten. Gerade diese Bücher, die mich zu Anfang gar nicht abgeholt haben, und die Fähigkeit besitzen eine Tiefe zu bieten, die sich erst nach mehrmaligem Wiederaufgreifen erschließt, sind es doch, die ein Bücherregal bereichern. Inwiefern die Rezepte in diesem Buch etwas taugen, vermag ich jetzt auch nicht beurteilen können, doch rechtfertigt allein schon der Zugewinn an Inspiration den Kauf.
Quellenangaben
Copyright sämtlicher Bilder: Luzia Ellert & Christa Engstler
Hinweis der Redaktion
Ein Teil der besprochenen Produkte wurden von Unternehmen zu Testzwecken zur Verfügung gestellt.
Ich finde die Schärfe und Klarheit in den Bildern sehr faszinierend – der Bildstil unterstützt die Präsentation ungemein. Tolles Werk!
Ganz meiner Meinung, die Schwierigkeit bei Footfotografie zudem ist ja, dass man ja nie vom eigentlich Star ablenken darf. Das hat Sie richtig gut hinbekommen.