Klassische Küche ist nicht tot – ganz im Gegenteil. Verfolgt man die Entwicklungen in der Spitzengastronomie, muss man zu dem Schluss kommen, dass die klassische Küche längst nicht so outdated ist, wie das vielleicht vor einigen Jahren noch der Fall war. Heute überzeugt sie in vielen Konzepten mit innovativen Elementen und zeitgemäßen Kreationen. In Berlin steht dafür vor allen Dingen die Küche des Reto Brändli im Lorenz Adlon Esszimmer, der im mit zwei Sternen im Guide Michelin ausgezeichneten Restaurant nun schon ein Jahr die Federführung übernommen hat.
Klassische Küche ist nicht tot!
Um zu verstehen, was es heute eigentlich bedeutet, klassisch zu kochen, muss du verstehen, welche Entwicklungen die Küche hierzulande hinter sich hat.
Kurz nach der Jahrtausendwende poppten in Deutschland die Trends der molekularen Küche als auch Crossover- Küche auf. Bis dahin galt in der gehobenen Gastronomie lange Zeit das Dogma, dass eine gute Küche zwangsläufig eine französische Küche sein muss. Darum kochten viele besternte Restaurants auf der Klaviatur der frankophilen Küche. Das führte weitgehend zu dem Verlust einer eigenen kulinarischen Identität. Für was steht eigentlich die deutsche Küche?
Zudem war es enorm herausfordernd, in diesem Setup eine USP, einen sogenannten Unique Selling Point, herauszuarbeiten. Themen wie Regionalität oder Saisonalität waren damals längst nicht so prominent umgesetzt worden, wie es heute der Fall ist.
Daher war die molekulare Küche so etwas wie ein Heilsbringer. Jeder durfte sich an den neuen Techniken ausprobieren. Der Markt der Grammwagen, die auf einmal für all die Pulver namens Xanthan, Lecithin oder Agar Agar benötigt wurden, schien zu explodieren. Zusätzlich bescherte der Hang zur Crossover-, oder auch Fusion-Kitchen genannt, die Möglichkeit, unterschiedliche Kochstile zu mischen und eklektisch einzusetzen. Das funktionierte mal gut, noch öfter weniger gut.
Nachdem die deutsche Gastronomie bis auf wenige Ausnahmen die Irrwege der beiden Trends verlassen hatte, folgte die Nordische Küche als langanhaltender Essenstrend. Bei der „New Nordic Cuisine“ kommen vor allen Dingen Beeren, Wurzelgemüse, Pilze, Hülsenfrüchte, Kohl und Kartoffeln auf den Tisch. Entstanden ist dieserStrömung in Kopenhagen und dessen Devise lautet kurz und schmerzlos: zurück zu den Wurzeln.
Schaut man heute genauer hin, kommt man nicht umhin festzustellen, dass nach all den Trendentwicklungen gerade die klassische Küche wieder en vogue ist, nur sind sie heutzutage viel innovativer als es das noch vor zwei Jahrzehnten der Fall war.
Reto Brändli kocht im Lorenz Adlon Esszimmer
Eine solche innovative, klassische Küche wird von Reto Brändli, Chefkoch im Lorenz Adlon Esszimmer zelebriert. Es gibt kaum einen Ort, der so geschichtsträchtig ist, wie das Hotel Adlon am Brandenburger Tor. Das ist auch an den Räumlichkeiten zu erkennen. Im Restaurant thront eine Bronzebüste von Kaiser Wilhelm II. Im Nebenraum befindet sich die Bibliothek, in der ebenfalls die Spitzenküche des noch recht jungen Schweizers den Gästen aufgetischt wird.
Reto ist derzeit dabei, sich in der Stadt einen Namen aufzubauen. Stationen bei Andreas Caminada, Rolf Fliegauf und das „Cà d’Oro“ in St. Moritz waren Grund genug, ihn an die Spreemetropole nach Berlin zu locken. Bereits im ersten Anlauf konnte er die 2 Sterne im Guide Michelin bestätigen. Daher wollte ich nach nun einem Jahr des Küchenchefwechsels die neue kulinarische Handschrift Retos entdecken.
Das Lorenz Adlon Esszimmer Menü
Es gibt 6 bis 8 Gänge (250 bis 290 €). Der Hauptgang „Ostfriesisches Rind“ kann wahlweise durch ein „Japanisches Kagoshima Wagyu“ ein Upgrade (+65 €) unterzogen werden.
Begonnen hat der Abend zunächst einmal mit einem herrlichen Blick auf das Brandenburger Tor. Die unmittelbare Nähe zum Wahrzeichen der Stadt offenbart einen unbezahlbaren Sonnenuntergang, dessen Schönheit sich wohl kein Gast*-in entziehen kann/will. So auch wir nicht.
Amuse Bouche in 2 Gängen im Lorenz Adlon Esszimmer
Die kulinarische Einstimmung startete an diesem Abend mit einer pochierten Auster und einem Cornetto mit Kalbstatar. Du siehst, der Auftakt könnte fulminanter kaum sein.
Die erfrischende Auster kam mit einem Holunderblütenschaum. Nicht weniger elegant und vitalisierend gestaltet sich das auf einem Silberlöffel angerichtete Hamachi-Tatar samt Meerrettichmousse und eingelegtem Rettich. Da wir große Liebhaber von Rindertatar und der Devise „Save the best for last“ sind, knöpfen wir uns das Cornetto zuletzt vor. In sich trug es eine Füllung von gegrillter Paprikarelish. Das war eine sehr gelungene Ergänzung zu dem Tatar mit Kristallkaviar und der geräucherten Crème Fraîche, dass wir mit ungeteilter Aufmerksamkeit genossen. Viel besser kann man meiner Meinung nach nicht in ein Menü einsteigen.
Der zweite Teil der Amuse Bouches folgte auf dem Fuße. Es wurde ein gebackener Froschschenkel mit fermentierter Knoblauchcrème, ein Bio-Ei mit confiertem Spinat und ein recht kompaktes Sauerteigbrot mit aufgeschlagener Butter serviert.
Der Froschschenkel war butterzart und funktionierte im Zusammenspiel mit der Knoblauchcrème wunderbar. Leider hatte dieser Dip nur viel zu schnell den Tisch wieder verlassen. In der Eierschale gab es Schichten aus in confierten Spinat mit Champignoncrème und -scheiben, knusprigen Croûtons und Eigelb.
Die Kombination aus unterschiedlichen Umamibomben gefiel uns sehr. Nun sind wir gespannt, wie die erste Vorspeise aussehen wird.
Bretonischer Taschenkrebs mit Rettich, grüner Apfel und Buttermilch
In Zeiten des Fachkräftemangels muss jeder Küchenchef bereits bei der Speisenkartenerstellung an die spätere Umsetzung dessen denken. Aufwendige Produkte wie dem Taschenkrebsfleisch sind heute nicht allzu oft auf den Karten zu finden, da es sehr aufwändig ist, an das so delikate Fleisch heranzukommen. Reto scheint sich der Herausforderung stellen zu wollen und beginnt gar nicht erst zu kleckern.
Das Taschenkrebsfleisch ist mit Krustentiermayonnaise mariniert und mit zweierlei Rettich garniert. Stücke von frischem Apfel und Leinsamenchips sorgen für zusätzliche Frische und knuspriger Textur. Dazu gießt er eine Buttermilch Vinaigrette mit Korianderöl und eine Vinaigrette von grünem Apfel an, bevor der Service am Tisch dampfende, gefrorene Perlen von Buttermilch und Apfel anrichtet.
Schnell zeigt sich, dass Reto es versteht, ein ausbalanciertes Zusammenspiel von Aromen und Texturen aufzubauen, ohne dabei zu viel zu wollen. Das in einem dünnen Band von Apfel eingeschlagene Taschenkrebsfleisch macht Lust auf mehr und sorgt durch die Frische der Buttermilch und des Apfels für eine Leichtigkeit, die bei den sommerlichen Temperaturen mehr als gelegen kommt.
Bio-Entenleber aus der Landes mit Rhabarber, Zitronenverbene und Schokolade
Wie eine Symbiose aus klassischer und innovativer Küche mit französischen Wurzeln aussehen kann, legt die Bio-Entenleber aus der Landes offen. Für eine weitere Abkühlung sorgt eine gefrorene Entenleberkugel auf Rhabarbergel, welche einen anregenden Schaum von Zitronenverbene in sich trägt. Daneben liegt eine Nocke Rhabarberkompott, das perfekt zu dem knusprigen Butterbrioche passt.
Auf dem flachen Teller richtet Reto simpel eine Scheibe Entenleberparafait an. Sie ist mit hauchdünnen Schichten von Schokolade durchzogen. In der Champagnerschale wartet auf uns eine leichte Entenleber Crème Brûlée mit geeisten Kugeln von Schokolade und Zitronenverbene. Segmente von Rhabarber, Blüten und Kressen runden das Entenleber Ensemble ab, das wie kaum ein zweiter Gang für die zeitgemäße Klassik steht.
Südafrikanischer Kaisergranat mit Blumenkohl, Pfifferlinge und Salzzitrone
Ein weiteres Merkmal der Küche Retos ist der Umgang mit Produktqualität. Gerade Produkte wie ein Langoustinoschwanz offenbaren schnell Kompromisse. Der in Nussbutter gebratene und gelöste Schwanz wird in der eigenen Schale auf einem Blumenkohl Cous Cous angerichtet.
Darauf legt Reto eine Nocke Pfifferlingskompott, marinierte Blumenkohlscheiben und Salzzitronengel. Die Brücke zwischen all den Aromen wird von der äußerst gehaltvollen Krustentier Bisque geschlagen, die alles miteinander verbindet. Der Gang ist Luxus durch und durch.
Nicht etwa, weil die Produkte wie der Kaisergranat eher der Liga der hochpreisigen Lebensmittel angehört, sondern weil jedes dieser Lebensmittel im perfekten Zustand auf beste Art und Weise zubereitet worden ist. Dabei wurde keines der Produkte großartig im Geschmack verändert.
Das ist meines Erachtens die große Kunst des Kochens – den Eigengeschmack des Produktes mit passenden Zutaten und Gewürzen herauszuarbeiten und im Prinzip nur zu verstärken, als zu verfremden. Das ist Reto mit diesem zentralen Spitzenprodukt, wie dem Kaisergranat bestens gelungen.
Atlantik Rotbarbe mit Tomate, Zwiebel, Basilikum
Mittelmeerküche pur erwartet uns beim nächsten Gang, bei der ein Rotbarbenfilet in der Küche nicht gebraten, sondern mit heißem Fett übergossen wird. Dadurch poppen die Fischschuppen regelrecht auf und bieten eine ungewohnte Textur, die wie krosse Chips für eine Dopaminausschüttung sorgen.
Ein intensives Tomatenkompott und ein Ragout von Tomate, Zwiebel, Zuckerschoten und Basilikum bilden die Beilage, die uns in Gedanken zusammen mit der weißen Tomaten Beurre Blanc direkt in den Sommerurlaub katapultiert. Vielen Dank für diesen unerwarteten Kurztrip.
Perlhuhn -Jean Claude Miéral- mit Sellerie, australischem Wintertrüffel und Piemonteser Haselnüsse
Nach all den säurebetonten Gängen folgen nun die eher erdigen und umamihaltigen Aromen. Eine im Trüffelcrêpe gerollte Ballotine, die in sich feinstes Perlhuhnfleisch mit Trüffelfarce aus der Bresse trägt, wird zusammen mit gebratenem Sellerie, Trüffelscheiben, Trüffeljus und einer Sauce Albufera angerichtet. Daneben gesellt sich ein mit Innereien gefülltes Knusperröllchen samt Selleriekompott und Trüffeljus. Hier stimmt angefangen vom Garpunkt, der geschmacklichen Balance bis hin zu den Proportionen einfach alles. Reto unterstreicht mit dem Perlhuhn sein bedingungsloses Qualitätsversprechen.
Ostfriesische Rind mit Aubergine, Mark und Pak Choi
Der finale Hauptgang entpuppt sich als ein nicht allzu fettarmes Stück vom Ostfriesischen Rind auf dem sich zwei kleine Rindermarkscheiben wiederfinden. Daneben liegt ein Auberginenröllchen mit kleinen Pak Choi Blättern und einer unheimlich kräftigen Sauce Bordelaise, die ebenfalls mit Rindermark und Rinderzunge angereichert ist, auf dem Hering Porzellan.
Wir sind sehr von der Qualität und auch der mutigen Wahl, ein nicht zu mageres Stück Fleisch anzubieten, angetan. Denn neben Luft und Wärme ist Fett ein sehr guter Geschmacksverstärker, was dazu führt, dass das ohnehin delikate Fleisch vom Ostfriesischen Rind so noch viel intensiver schmeckt.
Kassins Frühe Herzkirsche
Leicht verspielt läutet die Patisserie-Abteilung den süßen Teil des Menüs ein. Im ersten Dessertgang liegen auf dem rund ausgestochenen Miso Biskuit ein Kirschgelee und darauf eine Schicht Kirschmousse. Macadamiacrunch & -eis, sowie geröstete Macadamianüsse sorgen für die notwendige Tiefe und Textur.
Ein angenehm säuerlicher Kirsch-Essig-Sud führt eine gern gesehene Belebung herbei. Reto scheint ein Faible für gefrorene Perlen zu haben, denn auch bei diesem Dessert richtet der sehr aufmerksame Service eine Mischung aus Miso- und Sauerrahmperlen mit an. Uns gefällt’s!
Wilde Blaubeere
Eine zweite gefrorene Sphäre, eine gefrorene Kugel mit Füllung, bietet ein Flavorpairing von Blaubeere mit Estragon in Form eines Schaums, Quarkmousse, einem Szechuanpfeffer Chip und dem fruchtigen Blaubeerkompott samt eigenen Sud. Doch mein Interesse fiel vollkommen auf das fluffige Topfensoufflé.
Solltest du bereits einmal Soufflé zubereitet haben, wirst du wissen, dass es in der Tat nicht immer vorhersehbar ist, ob du eine gelungene Version aus dem Ofen ziehst. So viele Variablen können dafür sorgen, dass es dir misslingt.
Daher gibt es selbst bei gehobenen Restaurants keine Gelinggarantie, was leider dazu geführt hat, dass Soufflés recht selten auf Speisekarten zu finden sind. Somit war die Freude umso größer, endlich wieder einmal mit der Gabel in eine leicht krosse Soufflédecke eintauchen zu können, um das fluffig-feuchte Innere zu genießen.
Fazit zum Lorenz Adlon Esszimmer
Entspannt und zufrieden lehnen wir uns nach einem großartigen Menü zurück und frönen den Petit fours in Form eines Passionsfrucht-Eislollis, Limettenpraline, einem Cheesecake mit Himbeere, einem Brownie mit Dulce de Leche Mousse, einem Bio-Ei mit Zitronenkompott und Kokoseis und einer weißen Schokoladensphäre mit Yuzu und Orange, während wir in Gedanken dieses exzellente Menü voller klassisch, französischer Höhepunkte Revue passieren lassen.
Einmal mehr bin ich sehr von dem auf das klassische Handwerk ausgerichtete Konzept begeistert. Im Zusammenspiel mit dem perfekten und nicht zu formellen Service um Maître Oliver Kraft und der unheimlich umfangreichen und enorm treffsicheren Weinexpertise des Sommeliers Hans-Martin Konrads spielt das Lorenz Adlon Esszimmer mit wenigen anderen Restaurants in Berlin und Deutschland in einer eigenen Liga. Sicherlich wird nicht jedem Trend gefolgt – doch mit dem Fingerspitzengefühl von Reto Brändli, der ein gutes Gespür für innovative Klassik an den Tag legt, gelingt der Spannungsbogen für ein zeitgemäßes Gastrokonzept. Superb!