Die Zeit hat vor einigen Wochen im Dossier einen Leitartikel über menschenverachtende Behandlungen von Köchen in der gehobenen Gastronomie veröffentlicht. Der Beruf Koch wird in einem schonungslosen Artikel mittels einer Recherchearbeit von 1,5 Jahren in einem höchst verstörtem Bild dargestellt. Die Anschuldigungen wiegen schwer und sind im Tenor leider nicht neu. Dennoch überraschte mich die offene Darstellung der für meine Begriffe extremen Verhaltensweisen unter Nennung von Ross und Reiter. Vier Chefköche stehen im Fokus. Einer öffnet sich dem Rechercheteam und lässt Einblicke in einen denaturierten Kosmos gewähren. Eine Aussicht auf Besserung ist meiner Ansicht nach nicht gegeben, denn die Art und Weise wie bei Anfragen der ZEIT geantwortet wurde, lässt bei mir alle Hoffnungen im Keim ersticken. Mein Versuch der Bestandsaufnahme:
Die Bankrotterklärung der Gastronomie
Liest man den oben erwähnten Artikel der ZEIT, welcher mit einem aufwändig recherchierten Sachverhalt aufgearbeitet wurde, möchte man meinen, dass nach so einem Beitrag kein Stein auf dem anderen bleibt. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Es passierte seitdem faktisch nichts. Kein Aufschrei, kein öffentlicher Diskurs. Nichts.
Die Faktenlage ist dabei erschreckend klar und laut dem Rechercheteam der ZEIT auch gründlichst ermittelt worden. Die einzigen Schwächen liegen in der Tatsache, dass es um keine aktuellen Grenzüberschreitungen geht. Jeder dieser Fälle scheint verjährt und eine juristische Aufarbeitung kaum zielführend.
Es wurde mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus fast 20 Sterneküchen gesprochen. Es gibt heftige Anschuldigungen. Den Redakteuren liegen Zeugenaussagen, ärztliche Unterlagen, Arbeitsverträge und eidesstattliche Versicherungen vor.
Viele der genannten Köche arbeiten längst nicht mehr bei ihren Peinigern und haben dennoch Angst, unter ihrem richtigen Namen auszusagen. Doch das wäre notwendig, möchte man eine Änderung der Zustände herbeiführen. Ohne konkrete Aussagen wird es schwer fallen, den Tätern das Handwerk zu legen. Tritt keiner aus der Masse hervor und traut sich, wird dieser Artikel bald im Grundrauschen verschwunden sein.
Die öffentliche Debatte blieb bisher aus. Lediglich Jürgen Dollase, der meiner Meinung nach eine Täter-Opfer-Umkehr betreibt, behandelt das Thema.
Dass der Artikel unter den Köchen nicht so viel Beachtung gefunden hatte, mag auch darin begründet liegen, dass dieser leider hinter einer Paywall liegt. Nicht war da wohl bereit, den notwendigen Groschen in die Hand zu nehmen. Klar, werden sich die Köche diesen Artikel im WhatsApp Chat munter zugeschickt haben. Dort dient es vermutlich eher zur Unterhaltung und zur Belustigung. Jenseits der Gastro-Bubble wird der Artikel vermutlich nicht auf großes Interesse stoßen. Das Image ist bereits ruiniert und daher schlägt es in eine längst bekannte Kerbe.
Doch wie ist der Wandel zu einem anerkannten Beruf hinzubekommen?
Braucht die deutsche Gastronomie eine Me Too Bewegung? Vielleicht.
Wir kennen es aus der Filmbranche. Dort hatten die Tweets von Alyssa Milano die Me Too Bewegung erst in Bewegung gebracht.
Aus dem Artikel der ZEIT kann man viele Parallelen erkennen. Menschen in Machtposition nutzen diese offensichtlich unverhohlen für die eigenen Zwecke aus. Mitarbeiter werden kleiner gemacht, um selbst groß zu sein. Sexuelle Übergriffe in der Filmbranche waren allen Beteiligten bekannt. Gewehrt hat man sich jedoch viel zu spät.
Darin ist folglich vom Ausnutzen der höheren Hierachiestellung zu lesen. Autos sollen so beispielsweise für den Chef geputzt und getankt worden sein, nachdem der Fisch nicht in die richtige Größe gebracht worden ist. Der ZEIT gegenüber streitet man derlei Strafarbeiten ab. Es sei wohl im Einvernehmen mit dem Mitarbeiter geschehen. Selbst das liest sich in diesem Kontext zumindest eigenartig.
Warum passiert so etwas: Ein System voller Abhängigkeiten
Das alles kann natürlich nur in einem System von hohen Abhängigkeiten entstehen. Wenn der Küchenchef selbst nicht von seinem Vorgesetzten geprüft wird und somit schalten und walten kann, wie es ihm beliebt, ist ein unangemessenes Verhalten auf längere Zeit wohl vorprogrammiert.
Doch warum ist das so? Warum greifen gerade in der Sternegastronomie die Verantwortungsträger zu drakonischen und menschenverachtenden Methoden? Warum wird das von höheren Instanzen geduldet? Sie dürften zumindest eine Ahnung davon haben.
Ich selbst habe in der Spitzengastronomie gearbeitet und ebenfalls meine Erfahrungen gemacht. Ich möchte in keiner Weise behaupten, dass es aufgrund von äußerlichem Druck in Ordnung ist, mit Angestellten umzugehen, als seien sie Leibeigene oder moderne Sklaven mit denen man alles machen kann. Ganz im Gegenteil! Ich verurteile das aufs Schärfste.
Doch mit größerem Abstand zu dieser Zeit bin ich zu der Meinung gelangt, dass es im Kern der Druck, jeden Tag hundert Prozent zu geben, sein könnte, der dazu führt, dass der Küchenchef in eine Spirale gerät. Ein Kreislauf, welcher ihn vermuten lässt, hinter jedem Gast könne sich ein Kritiker verbergen.
Sollte dieser nun einen schlechten Abend haben, würde dessen Urteil die Arbeit eines ganzen Jahres zunichte machen. Das gilt es zu verhindern. Und Kritiker gibt es wahrlich eine Menge.
Wie bei kaum einem anderen Beruf wird dessen Produkt bzw. Leistung so oft einer öffentlichen Prüfung unterzogen, wie der des Kochs. Es gibt unzählige Führer, Sonderpreise und persönliche Titel, die erworben bzw. verteidigt werden müssen. Schließlich ist jeder Gast, welcher mit einem Handy und Apps wie Google Maps, Trip Advisor oder ähnlichem ausgestattet ist, ein potentieller Tester. Da bleibt kein Moment der Entspannung.
Der Beruf Koch • 100 % Leistung, ständig abrufbar, jederzeit
Der Chef braucht dafür ein Team, das stets auf Zack und in der Lage ist, die Speisen auf bestmögliche Art und Weise umzusetzen. Das übt auf dem Leader ebenfalls eine Belastung aus, die ihn mehr und mehr fordert. Gute Küchenchefs oder Teamleads filtern diese Belastung und geben sie nicht an die Mitarbeiter weiter. Doch die Wenigsten sind dazu ohne spezielle Weiterbildung oder Schulung in der Lage. Ich würde sogar meinen, es wären nur absolute Ausnahmetalente imstande, das zu tun.
Somit stellt sich die Frage, inwiefern ein Geschäftsführer in der Pflicht steht, dafür Sorge zu tragen, dass nicht nur alles auf dem Porzellan sondern auch die Mitarbeiterführung durch den eigenen Küchenchef stimmt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass in vielen Häusern die Chefköche, gerade dann, wenn sie dem Hause Sterne eingebracht haben, disziplinarisch nur in den alleeseltensten Fällen angefasst werden. Selbst wenn sie Fehlverhalten an den Tag legen. Es wird geduldet, um den Hausfrieden nicht zu gefährden.
In guten Häusern wird bei solchen Positionen geprüft, inwiefern der Abteilungsleiter bzw. schon dessen Stellvertreter in der Führung von Mitarbeitern geschult worden ist. Sollte dem nicht so sein, so sollte man sich der Sache annehmen. Alles andere wäre bei einem so dynamischen Arbeitsplatz bei dem es um viel Qualitäts- und Zeitdruck und in der Konsequenz auch um Emotionen geht, fahrlässig. Selbst dann, wenn die in der Verantwortung stehenden Mitarbeiter solch eine Schulung bereits erhalten haben, sollte man in regelmäßigen Abständen die Realsituation in der Küche überprüfen.
Auch sollte über unabhängige Ansprechpartner für die Mitarbeiter im jeweiligen Haus nachgedacht werden. Moderne Unternehmen bieten solche Stellen an, um am Arbeitsplatz die Möglichkeit zu geben, sich anonym über Missstände auszutauschen. An Orten, wo Führung durch Angst betrieben wird, ist an eine offene und vertrauensvolle Aussprache im Kreise der Kollegen nur schwer zu denken.
Jeder ist sich selbst der Nächste
Ebenso sind die eigenen Kollegen in der Küche in den seltensten Fällen eine Hilfe. Die meisten Köche sind in solchen Umgebungen auf sich selbst bedacht. Jeder wird in der eigenen Laufbahn Zeuge, jedoch tritt in den seltensten Fällen ein Unbeteiligter aus der Masse hervor und erhebt das Wort, da die eigene Beurteilung und das Zeugnis durch den Küchenchef gerade in der Sternegastronomie extrem wertvoll sind. Zu groß ist die Angst, die Monate/Jahre der harten Arbeit kaputt zu machen, nicht für einen Kollegen, den man vermutlich nach diesem Job nicht wieder sieht.
Ich bin mir sicher, die meisten Küchenchefs haben sich in ihren jungen Jahren geschworen, niemals so jähzornig und tyrannenhaft zu werden, wie sie es vielleicht bei den eigenen Chefs erlebt worden ist. Jeder kennt diese Beispiele. Doch das spätere Abkapseln der einprogrammierten Gewohnheiten, welche man vielleicht auch unbewusst übernommen hat, wird mit den Jahren schwerer und schwerer. Teilweise fällt einem überhaupt nicht auf, dass man längst grenzüberschreitend agiert, da alles dem Ziel des Sterns untergeordnet wird. Der Zweck heiligt die Mittel.
Diese Denke ist leider weit verbreitet. Es wird sich hier und dort sogar damit gebrüstet, schlimme Torturen überstanden zu haben. „Was dich nicht tötet, härtet dich ab.“
Talent must not kill culture!
Der stetige Druck, immer das Beste zu geben, hilft nicht weiter. Wenn Servicezeit ist, und die Gäste das Essen bekommen sollen, dann muss man als Serviceleiter in der Lage sein, die zeitliche Dringlichkeit und das Maß an Qualität beim Team verbal abzurufen. Diese Dynamik darf jedoch nicht zu einem Abtriften der Menschenführung führen. Nicht gelegentlich und schon gar nicht permanent.
Viele Arbeitgeber versuchen mit allen Mitteln die Belegschaft zu halten oder die Mitarbeiterakquise zu fördern, indem eine Vier-Tage-Woche eingeführt wird. Die Zeit wird zeigen, wie sich derartige Konzepte positiv auswirken. Ich würde mir wünschen, dass vor allen Dingen die schnell aufstrebenden Küchenchefs auch in Sachen Mitarbeiterführung besser und vielleicht auch nachvolziehabar geschult werden. Vielleicht kann es ja so etwas wie ein öffentlich einsehbares Zertifikat geben, welche eine angemessene Führung der Mitarbeiter bescheinigt. Unter normalen Zuständen wäre das ziemlich merkwürdig, würde sich ein Betrieb derart ratifizieren lassen. Nur leider haben wir anscheinend keine normalen Zeiten und sämtliches Vertrauen verloren, welches so wieder gewonnen werden kann.
Ohne derartige Weiterbildung würde man die begabten Köche frei nach dem Peter-Prinzip befördern. Ein guter Koch ist nicht zwangsläufig ein guter Abteilungsleiter mit Personalverwantwortung. Das müssen die Geschäftsführer, Hoteldirektoren und Restaurantbesitzer bitte endlich begreifen.