Ich muss sagen, mit dem letzten Jahr bin ich mit dem Angebot an großartigen Kochbüchern und Titeln rund um die Gastronomie sehr zufrieden. Erst vor einer Woche hat mir der Postbote, den ich hier im Hause wie kaum ein anderer gut kenne, einen Hammertitel überreicht. Es fand direkt aus den Staaten zu mir und trägt den Namen „The Aviary – Cocktail Book“. Die Macher dieses Werks haben den Titel ins Rennen geschickt, um die Art der Coktailbücher, wie sie heute geschrieben werden, zu revolutionieren. Ich muss sagen, es ist ihnen hervorragend gelungen.
The Power of a well made cocktail
Auf diesem Blog habe ich schon ein sehr gutes, deutsches und auch modernes Cocktailbuch besprochen. Es ist die Cocktail-Bibel aus dem Hause Callwey. Wer einen gehobenen Anspruch an einer Mischung aus klassischen aber auch eigenen Kreationen diese „Liquid Food“vorweisen kann, ist hier goldrichtig. Man hat einfach einen gesunden Rundumschlag, was man aus der hiesigen Cocktailszene erwarten darf.
Wenn dieses Buch nun Cocktail-Bibel genannt wird, dann ist „Aviary“ wohl eine Offenbarung. Es stellt alle da gewesenen Bücher in den Schatten und definiert den Status quo komplett neu. Es schafft für alle existierenden Werke au ein Problem, Es wirkt einfach nur trist und langweilig, vergleicht man es mit diesem Kunstwerk. Denn keine andere Begrifflichkeit mag hier passen.
Dabei geht es mir in erster Instanz nicht um die hier abgebildeten Rezepte und deren sehr pfiffige Darstellung, welche enorm facettenreich und farbenfroh daherkommt. Es geht auch nicht, um den sehr umfangreichen Inhalt. Ich nehme an, dieses Buch sorgt für taube Beine, sollte man es zu lange auf dem Schoss liegen haben. Nein, das alles ist es nicht.
Hier wurde die Zur-Schau-Stellung des Cocktails komplett neu gedacht. Das Konzept, wie Cocktails auch funktionieren können, gänzlich neu entworfen und erstaunlich gut umgesetzt. Höchst experimentelle Aufbauten suggerieren eine sehr tiefgründige Herangehensweise bei der Herstellung der teilweise sehr komplexen Drinks.
Doch beginnen wir von vorne.
4 Autoren für hunderte von Rezepten
Aviary ist die Summe der Arbeit von vier kreativen Meistern ihres Fachs. Zum einen ist dort Grant Achatz und Nick Kokons, die Gründer und Inhaber vom Restaurant Alinea in Chicago. Einem der besten Restaurants der Welt mit einer unheimlich avantgardistischen Art der Speisenbereitung. Hier werden Trends, welche allesamt den Weg in die Küchen dieser Welt finden, gesetzt. Wer mehr von diesem einzigartigen Ort erfahren mag, kauft sich entweder das Bestseller- Buch oder schaut sich die Folge mit Grant Achatz auf Netflix der Erfolgsserie „Chefs Table“ an.
Was das Alinea für erstklassiges Essen auf modernste Art ist, ist das „Aviary“ für Drinks und Cocktails. Beides ist wie gesagt in Chicago beheimatet. Die Bar wurde 2011 eröffnet und ist eine sehr experimentelle Cocktail Bar. An diesem Ort kommen Techniken zum Tragen, welche man eigentlich eher im Alinea erwarten würde. Bereits von Beginn an war der Gedanke, ein Buch darüber zu erschaffen, vorhanden.
Jedoch sollte es keines der unzähligen Cocktailbücher werden, welche in irgendeiner Art und Weise an die klassischen Formate à la „A Gentlemans Guide to Cocktails“ erinnert. Man wollte sich viel mehr an die umfangreichen, dicken Wälzer der großen Chefs wie Thomas Keller oder Alain Ducasse orientieren. Deren Stil war geprägt durch ganzseitige Fotos, welche durch ihren individuellen Charakter den Betrachter inspirieren sollten als einfach nur eine weitere belanglose Aufzählung von Rezepten zu liefern.
Bereits das Kochbuch vom Restaurant Alinea hatte weltweit viele Käufer gefunden. Einer von ihnen war Allen Hemberger. Er nahm sich vor, viele der sehr komplexen Rezepte nachzumachen. Er erstellte dafür eigens einen Blog und protokollierte wie in einem Tagebuch mit Bildern und Videos seine Erfolge oder auch Misserfolge. Nachdem er das Buch in seiner Gänze nachgekocht hatte, beschlossen seine Frau und er, dieses Projekt in ein Buch zu fassen. Eine Kopie ging dabei zu Grant Achatz.
Die Aufmachung gefiel so sehr, dass sich Achatz und Kokons dazu entschieden, die beiden einzuladen, um darüber zu sprechen, wie man gemeinsam das besondere „Kochbuch“ für die Cocktailbar schaffen kann. Und ohne die Einbindung eines großen Verlagshauses, welches üblicherweise die Kosten für Fotografie, Design, Layout, Rezeptstruktur und Druckqualität klein halten würde, wurde dieses Projekt „Aviary“ nun durchgezogen.
The Aviary – Cocktail Book
Was einem in dieser gebundenen Form als Ergebnis der wohl sehr aufwendigen Arbeit dieses Quartetts entgegenschlägt ist erstaunlich. Hier wurde wirklich alles in die Waagschale geworfen, was möglich ist. Eine wahre Enzyklopädie von Drinks. Bekannte als auch unbekannte Getränke gibt es hier zu sehen. Klassiker in einem modernen Gewand als auch gänzlich neu entwickelte Drinks sind hier en masse aufgeführt. Gleich wenn hier sicherlich die Quantität eine erhebliche Rolle spielen mag, senkt dies niemals die Qualität.
Seite für Seite offenbart sich ein exzellent inszenierter Cocktail auf eben einer ganzen, wenn nicht sogar auf einer Doppelseite. Dabei werden einfallsreiche Namen kreiert. Beschreibungen wie „Carrot is the new tomato“, „Ford`s Model Tea Party“, „Monkey Tail“ oder etwa „Harry, I took care of it“. Die Bilder allein erzählen bereits ihre eigene Geschichte. Farbenfrohe und absolut kurzweilige Bilderreihen bringen hier mächtig Leben und Musik ins Buch.
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Kapitelübersicht
„Light & Refreshing“, „Seasonal“, „Boozy“, „Drinks with Snacks“, „Adventurous“, „Non-Alcoholic“, „Warm“, „Flights“, Rich“, „Bubbles“, „Time“, „The Office“ und „Dusty Bottle“.
Der Aufbau
Aviary ist nicht klassisch in Kapitel aufgeteilt. Schlägt man vorne das Inhaltsverzeichnis auf, so gibt es verschiedene Themengebiete, welche suggerieren, dass das Buch danach gegliedert ist. Schaut man aber genau hin, so fällt auf, dass die dort aufgeführten Drinks an unterschiedlichen Orten im Buch zu finden sind.
Um sich aber eine Übersicht zu verschaffen, ist man dennoch sehr gut mit dieser Gesamtschau beraten, da sie wirklich sehr übersichtlich und ansprechend gestaltet ist. Wie eigentlich alles hier.
Eine vorbereitende Definition, was prinzipiell in eine gute Bar gehört, welches Equipment man benötigt, wie Eis mit Geschmack erzeugt wird und viele weitere Dinge, welche einem gerade auch im professionellen Sinne hilfreich sind, die folgenden Cocktails zuzubereiten.
Ein anfängliches Amuse Bouche in Form eines Daiquiri zeigt dem Leser, wie die Rezepte zu verstehen sind. Man kann sich an einer Experimentierrunde von unterschiedlichen Versionen dieses Klassikers probieren. In sechs Abmischungen wird gezeigt, welche dieser Beispiele in welche geschmackliche Richtung gehen. Von „zu süß“, „zu trocken“ bis zu „absolut nicht empfehlenswert“ ist alles aufgeführt. Freilich wird eine funktionierende und gut ausbalancierte Variante feilgeboten.
Weiter hinten im Buch werden bei einigen Cocktails Versionen und deren Auswirkungen auf das tatsächliche Endprodukt gezeigt als auch beschrieben.
Porthole
Ein sehr spannendes Konzept der Cocktailbereitung ist im Aviary das Porthole. Dabei kommt die Idee der Infusion von Flüssigkeiten ins Spiel. Ursprünglich ist sie im klassischen Zubereiten von Gerichten in der Küche verankert, wo zum Beispiel längst Wasser mit Knochen, Gemüse oder Kräutern zu einer Consommé also Kraftbrühe gewandelt wird. In der Getränkesektion findet man derartigen Einsatz bereits seit längerer Zeit als Infused Water. Dort versetzt man Wasser mit Apfelgeschmack oder ähnlichem.
Die Schaffer von Aviary haben diese Idee nun für Cocktails adaptiert. In einem Behälter, welcher Porthole heißt, ist es möglich, diesen mit den individuell zusammengestellten Aromen zu füllen und mit der Flüssigkeit der Wahl aufzugießen. Ein transparenter Deckel sorgt für den sehr hübsch anzusehenden Durchblick und gewährt eine Einsicht auf die Prozesse, die sich darin abspielen. So erinnern einige Rezepte beispielsweise an einen Punsch. Andere schaffen den Eindruck eines eher frischen Getränks mit Aromen wie Zitrus-, Fenchel- und Safrannoten.
Design
Ich möchte mich vor den Rezepten erst einmal dem Buchdesign widmen. Selten spricht mich eine Aufmachung derart positiv an wie es in diesem Fall gewesen ist. Das Buch hat derart viele Elemente, welche witzig und sinnvoll und dabei immer funktional eingebaut worden sind, dass der Preis alleine schon ohne den Inhalt die Sache wert ist. Die Bildsprache ist wunderbar. Gerichte werden sehr präzise und mit sehr natürlichen Farben dargestellt.
Die kontrastreiche Darstellung sorgt zwar für knallige Farben, tritt dabei jedoch nie unnatürlich oder ungewohnt auf. Man hat wirklich das Gefühl, dass alles hier Gezeigte so in echt erleben zu können. Spannend finde ich auch den Umstieg auf griffigeres Papier wenn es in die Sektion der klassischen Cocktails geht. Hier fühlt man sich nicht nur optisch sondern auch haptisch in eine andere Zeit versetzt. Man ist kopfmäßig richtig vorbereitet, um den traditionellen Drinks zu frönen. Es wurde einfach alles richtig gemacht.
Die Rezepte
Und natürlich stehen die Rezepte im Mittelpunkt. Dabei gibt man diesen viel Raum und setzt auf ausreichend Text, um den Leser auch nachvollziehbar die Herstellung zu vermitteln. Gewogen wird dabei stets in Gramm. Die verschiedenen Komponenten werden sehr gut untergliedert. Durcheinander kommt man so auch bei sehr komplexen Zubereitungen nie.
Fazit
Der sehr experimentelle Charakter fasziniert mich sehr. Man hat es hier wohl mit absoluten Freigeistern zu tun, welche sich ziemlich offen in alle Richtungen wagen. Herauskommt eine unheimlich Vielfalt, welche ich so bisher in einem Buch über Cocktails nicht erleben konnte. Sicherlich wird man sich fragen, kann man mit diesem Buch auch zu Hause etwas anfangen, oder ist dies lediglich ein Buch für Profis. Meine Meinung ist dazu folgende.
Selbst wenn man nicht zwingend jeden Cocktail hier umsetzen kann, wird man in vielerlei Hinsicht mit Inspiration zu eigenen „abgespeckten“ Versionen der hier abgebildeten Drinks kommen können. Ich würde sogar soweit gehen, dass man kein weiteres Cocktailbuch mehr benötigt, hat man sich dieses hier angeschafft. Es überzeugt erstens durch eine erstklassige Verarbeitung. Die Bilder sind brillant und die Inszenierung sehr akkurat bei den Farben und Kontrasten und so ziemlich das Beste, was ich bisher so an kreativer Arbeit in diesem Sektor gesehen habe. Der Preis gemessen am Umfang fast schon lächerlich gering.
Für 85 $ bekommt Ihr mehr als 440 Seiten erstklassiger Arbeit in gebundenem Format. Ich möchte fast meinen, dass jeder, der sich in den Kopf gesetzt hat, das Buch zu kaufen und dennoch zögert, um später vielleicht vor einem ausverkauften Werk zu stehen, wird sich grün und blau ärgern. Das Ding ist ein absolutes MUST HAVE und gehört gefälligst offen in der Wohnung oder in jeder Bar ausgestellt.
Es zeigt, wie schön und gut Kochbücher oder eben auch Cocktailbücher verpackt sein können. WELL DONE! Zu Recht bekommt dieses Buch in allen Kategorien die Höchstbewertung. Leider ist dies kein Kochbuch im klassischen Sinne, jedoch drücke ich hier mal ein Auge zu und setze es dennoch auf meine Liste der besten Kochbücher, weil es hoffentlich viele Nachahmer in den Verlagen finden wird. Gerne auch bei den Kochbüchern.