Bei einigen Köchen aus der Sternegastronomie baue ich schon vor Erhalt des angekündigten Kochbuchs eine enorme Erwartungshaltung an das letztliche Werk auf. Das war zum Beispiel stets bei Daniel Humm oder auch bei Tim Raue so. Oft wurde diese auch bestätigt, vor sechs Jahren aber beim Kochbuch namens „JW4“ von Joachim Wissler zuerst enttäuscht. So lagerte es seit sechs Jahre nach dem Erwerb in meinem Kochbuchregal und wurde seitdem nicht mehr herausgeholt,… bis jetzt.
Alles begann mit einer Facebook- Anfrage eines Mitglieds der „Kochbuchecke“, einer Austauschgruppe in diesem großen sozialen Netzwerk. Dieser Kochbuchbegeisterte wollte wissen, ob es sich denn lohne, das Kochbuch zu erwerben und was es denn mit dem Titel auf sich hat.
Ich erwiderte zuerst meine erfahrene Enttäuschung über das Buch aufgrund des Layouts und des mir zu sterilen Looks der Bilder auf Platten in Grauverläufen. Andere wiederum konnten sich nur zu leicht für das Werk begeistern, was ich bis dato nicht nachvollziehen konnte. So entschied ich mich, das Buch auch im eigenen Interesse noch einmal herauszuholen und einer umfassenden Buchbesprechung zu unterziehen. Wieder einmal wurde ich eines Besseren belehrt, auch wenn ich einzelne Kritikpunkte der Vergangenheit heute noch nicht gut finde.
Die kulinarischen Symposien mit Joachim Wissler sind eine reinste Freude
Wer Joachim Wissler nicht kennt, der muss wissen, dass dieser wie kaum ein Zweiter für innovative und avantgardistische Kochkunst steht. Er treibt die Entwicklung in einem unglaublichen Tempo voran. Dabei ist er kulturell enorm aufgeschlossen, auch wenn es dabei um Traditionen aus dem entfernten Asien geht, wie dem Cold Brewing. Er ist bei den meisten Führern (3 Sterne im Guide Michelin, 19,5 Punkte im Gault & Millau, 10 Pfannen im Gusto „pans“) als Küchenchef des Restaurant Vendôme mit den Höchstnoten vertreten und erlangte vor einigen Jahren durch den 10. Platz der „50 best Restaurants“ – Liste von San Pellegrino einen weltbekannten Status.
Die ersten Umsetzungspläne für das 2010 verlagsfrei veröffentlichte Buch gab es im Frühjahr 2009. Joachim Wissler stellte mit seinem Team gerade auf kleinere Gerichte in aber dafür längere Gangfolgen um und wollte dies über den Zeitraum von 12 Monaten, ergo 4 Jahreszeiten (JW4), dokumentieren.
Joachim Wissler über den Inhalt des Buches:
„Herausgekommen ist nun ein Buch, das unsere Arbeit in den zwölf Monaten des Jahrs 2009 nachzeichnet. Wie entstanden die Ideen für neue Gerichte? Wie sahen die ersten Versuche aus, diese Ideen umzusetzen? WAS LERNTEN WIR DABEI? Wie verwandeln wir Gefühle in Geschmack? Wie kombinieren wir vermeintlich unkombinierbare Geschmäcker? Nach welchen Regeln wenden wir moderne Techniken an? Und warum ist das Gericht am Ende so wie es ist?“
Ihm war dabei wichtig, dem Leser nicht nur oberflächlich zu begegnen. Es sollten tiefe Einblicke in die Arbeit der Crew gewährt werden um so ein hohes Maß an Transparenz zu schaffen. Insgesamt galt es 4 Menüs mit je 20 Gängen oder mehr aufzuarbeiten. Auf diesem Niveau ist das freilich eine Meisterleistung. Den vier Jahreszeitenmenüs ist noch ein weiteres fünftes Kapitel hinzugefügt worden. Es geht darin um die Klassiker des Restaurant Vendômes.
Auch macht Joachim Wissler in der Einleitung keinen Hehl daraus, dass dieses Buch in erster Linie an die Köche richtet, die daran interessiert sind, über den Topfrand hinaus zu blicken.
Die Produktion von „JW 4“
Für die Produktion dieses Kochbuchs wurde ein recht ungewöhnliches Team zusammengestellt. Man setzte bewusst auf die Hilfe von Profis, die nicht aus der Food- Branche kommen, um Klischees bzw. einen gewissen Tunnelblick zu vermeiden. So stammen die Bilder von einem Fotografen, der bisher nichts mit Food- Fotografie am Hut hatte. Die Texte wurden von einem Nachrichtenjournalisten verfasst. Das Buch wurde von einer Agentur gestaltet, welche bis dato nur DAX 30 Unternehmen für solche Zwecke berät. Man verspricht sich dadurch ein höchst individuelles Werk, welches ohne die üblichen Barrieren produziert werden konnte.
Zuerst fällt beim Blättern der bilinguale Druck der Texte auf. Man begegnet hier dem deutsch- und englischsprachigen Publikum. Das recht großformatige Buch eröffnet das erste Menü aus dem Frühsommer mit insgesamt 24 Gängen, welche zudem noch zusätzlich mit vier „Vorfreuden“ (Amuse Bouche) und vier „Abspännen“ (süße Snacks ähnlich Petit Fours) aufgewertet werden.
Den anschließenden Gerichten lässt man jeweils Platz für eine Doppelseite. Hier werden neben dem Foto, die Idee als auch zum Teil via Step-by-Step Fotos die Zubereitung ausgewählter Komponenten gezeigt. Rezepte sucht man hier bislang noch vergebens.
Wenn Pulver flüssig wird – Maltodextrin
So wird der Leser nach und nach visuell durch die knackscharfen Bilder durch das Menü geführt und bekommt durch die Erklärung ein paar Eindrücke zum Werdegang bzw. Hintergrund der besprochenen Speise. So umschreibt er den Gang „Rosen“ mit folgenden Worten:
„Doppelter Schmelz: Ein Blumenstrauß auf dem Teller. Edel, satt, intensiv, feminin. Und ein Spiel mit dem Mundgefühl. Der Esser spürt etwas Kaltes auf der Zunge, das Sorbet. Und er spürt etwas Feinkörniges, das Erdbeerpulver. Aus den Gegensätzen wird Eines. Denn beide schmelzen.“
Hier bezieht er sich auf die Textur, welche durch den Einsatz von Maltodextrin, einem Pulver aus Malzucker und Tapioka, geschaffen wird. Es ist ein Pulver, welches in der Lage ist, Fette zu absorbieren also zu binden. So lassen sich Aromen, welche über Fette eingefangen sind, in Pulverform verwandeln, die wiederum auf der Zunge eine nicht zu erwartende Struktur annehmen… sie schmelzen und werden flüssig.
Die Bildsprache wirkt recht steril und sachlich
Die Bildsprache ist hierbei recht steril und vom Look her erinnert es an die Bücher von Ferran Adrià, der seine Gerichte ähnlich dargestellt hat. Das ist nicht unbedingt so meins, für mich wirkt es lieblos und trist, auch wenn ich hier die handwerklichen Geschicke und sehr farbintensiven Gerichte in keinster Weise in Abrede stellen möchte. Die Plattform erscheint mir hier zu grafisch. Dafür ist das Thema mir einfach zu emotional.
Zwischendurch erhält der Konsument immer wieder Einblicke in die Arbeitswelt einer Servicekraft oder eben die eines Kochs im Restaurant Vendôme. Fotos mit grobkörniger Stilistik ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch und hauchen ihm etwas Seele ein.
Neben dem ersten Menü folgen der „Spätsommer“, der „Herbst“, der „Frühling“ und die bereits angesprochenen „Klassiker“.
Hervorzuheben sind außerdem die absolut fantastischen Desserts von dem damaligen Chef- Patissier namens Andy Vorbusch. Wer diesen Blog verfolgt, wird schon von ihm gelesen haben. Er ist eine absolute Koryphäe auf seinem Gebiet. Ihr könnt Euch Beiträge hier und hier von ihm anschauen.
Des Weiteren erkennt man viele damals noch nicht so bekannte Gesichter, die heute gestandene Küchenchefs oder Meister ihres Fachs geworden sind. So dürfte Toro Nakamura oder auch Marco D`Àndrea dem einen oder anderen ein Begriff sein.
Die Rezepte sind in dem Buch nicht enthalten
Kommen wir zum Punkt Rezepte. Man hat sich dazu entschlossen, dem Buch keine Rezepte beizufügen, sondern diese separat online zu stellen. Will heißen, der Leser mit dem Interesse, dieses oder jenes nachzukochen, ist gezwungen sich mit Email und Passwort zu registrieren um die Rezeptdatenbank per freizurubbelnden Code im Buch zu öffnen. Ist man nun eingeloggt, kann man auf der dort angelegten Datenbank zwischen den einzelnen Menüs navigieren und so sich sein Gericht mit der dazugehörigen Rezeptur heraussuchen. Für wieviel Personen die Rezeptur ausreicht, findet hier keine Erwähnung. Einige Zubereitungen werden mit Step-by-Step- Fotografie begleitet, die meisten aber nicht. Die Produkte mit den benötigten Mengen sind in einer Tabelle angeordnet, die Zubereitung in Schritten untergliedert.
Über 120 Rezepte finden sich online
Warum man sich für diese Lösung entschieden hat, ist mir schleierhaft. Es ist für ein Kochbuch auf diesem Niveau für mich ein absolutes Novum, wenn man einmal von Sergio Hermans Buchprojekt komplett ohne Rezepte absieht. Sicherlich gibt es verschiedene nachvollziehbare Gründe für solch eine Maßnahme. Da sind zum einen die Druckkosten, welche massiv gesenkt werden können. Druckt man alle Rezepturen einmal aus, kommt man auf einen stattlichen DIN- A4 Ordner. Es ist sicherlich eine Herausforderung für sich, von 5 Menüs mit ungefähr zwanzig Gängen jede Komponente durch zu rezeptieren.
Auf der anderen Seite kann ich mir vorstellen, dass man so sich die ungewünschten Rezeptkopien ersparen wollte. So kommt erst einmal nur derjenige an die Datenbank, welcher auch wirklich das Buch gekauft und nicht nur geliehen hat.
Einen kleinen Bonus gibt es hier ebenso. Ab und zu wird in unregelmäßigen Abständen offensichtlich ein Update durchgeführt. Es befinden sich demnach auch Rezepte aus dem Jahr 2012 im Online- Index.
Alles in allem raubt aber zum gewissen Teil solch eine Ausgliederung zu einer Online-Rezeptesammlung dem Kochbuch jegliche Hauptfunktion, so dass man am Ende des Tages einen nur einen Bildband in den Händen hält. Sven Elverfeld hat ebenfalls ein solches „Monster“ (im positiven Sinne) geschaffen und es sinnvoll umgesetzt, alle Rezepte in dem Band zu integrieren. Sicherlich ist er sprachlich nicht zweigleisig gefahren, dennoch denke ich, dass es bei solch einem Koch möglich sein sollte, das Wissen komplett analog zugänglich zu machen. Das Buch wäre so um ein Vielfaches charmanter und würde nicht das mühselige Recherchieren am Rechner voraussetzen. Abgesehen davon mag ich mir nicht ausmalen, wenn durch irgendeine Katastrophe das Internet mir verwehrt ist und ich aber dennoch an die Rezepte kommen muss. Und wer versichert mir, dass es dieses Portal in 40 Jahren immer noch gibt? Ein vorsorglich kompletter Rezeptdruck ist da sicherlich empfehlenswert.
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Fazit
Ebenso zweckmäßig ist dieses Buch für alle mit dem Wunsch nach Inspiration. Hier kann man, obwohl das Buch nun schon mehr als ein halbes Jahrzehnt alt ist, immer noch brandaktuelle Trends bestaunen. Gerade auch deswegen kann der Preis von nun noch 70 Euro inkl. Versand (ursprünglich lag es bei knapp 110 €) als absolut preiswert, wenn nicht sogar günstig bezeichnet werden. Der Inhalt, den man daraus ziehen kann, ist enorm und sicherlich war es von mir gar nicht so sinnvoll, dem Buch in den letzten sechs Jahren keine zweite Chance zu geben. Nun werde ich es aber öfter heraus ziehen, versprochen.
Hi
Ich möchte gerne dieses Buch kaufen
Aber bei wem ???
Bitte sagen mir wie!!