Mit dem heutigen Tag startet die dreiteilige Buchbesprechung von Ferran Adriàs Momentaufnahme der Zeit im „elBulli“. Die ist so umfassend geworden, dass ich mich dazu entschlossen habe, diese auch entsprechend weiträumig zu beurteilen. Die nächsten beiden Teile sind dann auch in den kommenden zwei Tagen auf der „Berliner Speisemeisterei“ nachzulesen.
17,8 kg schwer und mit einem Umfang von über 2500 Seiten ist „elBulli 2005-2011“ kein Leichtgewicht. Überhaupt ist allgemein bekannt, dass der Katalane Ferran Adrià sich nicht mit halben Sachen abgibt. Dieser 7- teilige Band ist der Beweis dafür. Er ist der Wegbereiter der modernen Küche, welche dabei oft auch als „Molekularküche“ verschrien worden ist. Viele haben dieser Art des Kochens auch schon das Ende vorhergesagt, doch so einfach kann man es sich nicht machen, ist der Übergang in andere Kochstile eher fließend. Heute wendet man mit Sicherheit nicht weniger der Texturen wie Lecithin, Agar Agar, Xanthan und Co, welche von Adrià fast schon salonfähig gemacht worden sind, an. Ganz im Gegenteil. Jedoch wird der Umgang nun aber eher vorm Gast versteckt.
Auch darf man dabei nicht vergessen, dass eigentlich jede Kochphilosophie eine Art Molekularküche ist, da die meisten Vorgänge in der Küche chemischer Natur sind und von der Verschmelzung zu Molekülen leben, welche nach ihrer Verbindung unumkehrbar sind. Insofern ist Kochen schon immer irgendwie molekular gewesen.
Doch was unterscheidet Ferran Adrià zu anderen Chefköchen? Sein Restaurant „elBulli“ war stets nur 6 Monate im Jahr geöffnet, und das obwohl es eine nicht zu bändigende Nachfrage an Reservierungen gab. 2004 wurde er von der „TIME“ auf die Liste der 100 einflussreichsten Menschen des Jahres gesetzt. Auf dem Höhepunkt dieses Zulaufs kam ihm nichts Anderes in den Sinn, als dieses Restaurant zu schließen und es in eine Stiftung umzuwandeln, und das, obwohl es nicht wenige Besucher als das beste Restaurant der Welt adelten.
Ferran Adrià, Juli Soler, Albert Adrià
Phaidon, 2014
2720 S., gebunden, 525,00 €
ISBN: 978-0-714-8654-85
Doch einigen ging dieses Kochen streng nach dem „Chemiebaukasten“ zu weit. Kritisch beäugt wurde dabei der Einsatz von Stoffen wie Transglutaminase oder Methylzellulose. Manfred Kohnke zitierte man in diesen Zeiten wie folgt:
„In Wahrheit ist er nur der berühmteste Laborant unter den Küchenstars, sein Restaurant elBulli ist ein Showroom der spanischen chemischen Industrie.“
Nach dem Entschluss das elBulli zu schließen bleibt den Anhängern nun mit dem Gesamtwerk eine enorm trostspendende Kochbuchsammlung dieses polarisierenden Protagonisten seiner Zeit. Hier wird der kreative Zeitstrahl von 2005 an dokumentiert und dem Leser eine umfassende Analyse seiner Arbeiten aufbereitet. Dabei umschreibt er nicht nur die Gerichte sondern breitet den gesamten Prozess aus. Das beginnt bereits mit seiner grundlegenden Philosophie und der daraus resultierenden Organisation.
2005 Katalog
Er öffnete das Restaurant nur für 6 Monate für den eigentlichen Service. Den Rest der Zeit verbrachte er im Labor beim Tüfteln neuer Zubereitungsarten. Tausende Stunden wurden für das perfekte Gericht geopfert. Diese totale Hingabe ist nur einer der Gründe, warum Ferran Adrià mit seinem Schaffen so viele Köche später beeinflusst hat. Der erste Katalog beinhaltet dabei nicht ausschließlich Essen sondern gibt auch den Cocktails ein Podium. Insgesamt ist dieser Teil untergliedert in die Rubriken Cocktails, Snacks, Tapas, Vordesserts, Desserts und „Morphings“.
Oft ist bei einigen der gezeigten Rezepte die Neuinterpretation von altem Bekannten die Antriebsfeder für die Entwicklung. Bewährte Kompositionen werden auseinander gebrochen und wieder auf andere Art und Weise verbunden. Der Begriff der Dekonstruktion hat sich dadurch in der molekularen Küche festgesetzt. Beispiele finden sich sofort auf den ersten Seiten. Die „Magerita 2005“ richtete er in einem großen Block aus Eis. Darin drapierte er ein Frappé aus Zitronensaft, Wasser, Sirup, Tequila und Cointreau, welches daraufhin noch mit einer Air aus salzigem Wasser getoppt wurde.
Aber auch ungewöhnliche Kompositionen sind absolut allgegenwärtig. „Melon with ham 2005“ klingt zu aller erst nicht sehr aufregend, kennt man doch diese Zusammenstellung aus unzähligen Versionen der Buffets, welche Honigmelonenschiffchen mit Schinken garnieren. Er dachte sich für diese Interpretation folgendes Szenario aus. Der „Jamón Ibérico“- Schinken wird als mit Xanthan gebundene Consommé gereicht. Das Fruchtfleisch wird im Mixer püriert und die aufs Gramm abgewogene Menge in einem bestimmten Verhältnis mit Natriumalginat angereichert. Diese Mixtur wird nun noch mit speziellen Spritzen aufgenommen und in ein vorher angerührtes Kalziumbad tröpfchenweise zugegeben. In dieser Lösung bekommen nun die Kügelchen eine hauchdünne aber durchaus stabile Hülle, welche dafür sorgen, dass man diese nun abgespült in das mit Schinkenkraftbrühe gefüllte Glas geben kann.
Gerade Gerichte, die nach dieser Machart zubereitet sind, sorgten schlussendlich dafür, dass sogar die handelsüblichen Waagen in den Profibetrieben nicht mehr ausreichend waren. Es mussten noch viel genauere Messapparaturen besorgt werden. Skalierungen von bis zu 0.01 g waren nun gefordert, um ein entsprechendes reproduzierbares Ergebnis zu erreichen. Die meisten der Rezepte mit Komponenten wie Agar Agar oder Xanthan verlangten maximal 1g pro 100 g Flüssigkeit um diese sinnvoll abzubinden.
Damals wie auch heute sieht sich der Verbraucher längst mit diesen Mitteln konfrontiert. Xanthan wird zum Beispiel massiv bei Produkten für Endverbraucher eingesetzt, so zum Beispiel bei der Herstellung von Tomatenketchup, Mayonnaise, Senf, Dressings als auch Hygieneartikeln wie Lotionen, Shampoo, Zahnpasta, flüssigen Seifen und Mascara. Nicht selten wird es auch bei Sprengstoffen verwendet. 2003 lag die Jahresweltproduktion etwa bei 20.000 Tonnen. Es ist also ein Stoff aus der Industrie, und Ferran Adrià bedient sich diesem und auch vieler anderer.
Durch das Rezeptieren von Gerichten mit einem sehr eigensinnigen Charakter und vor allen Dingen einer sehr ungewöhnlichen Präsentation wirken sie auf ihre Weise immer auch sehr abstrakt, fast so als wären es keine Genusshäppchen sondern Kunstwerke von einer anderen Welt. Esspapier aus Pfirsich, das in einem Briefumschlag serviert wird, Parmesan- Macarons mit gefriergetrockneten Waldbeeren oder sphärische Ravioli von Mozzarella. Alles wirkt irgendwie steril und künstlich und hat so rein garnichts von den bekannten Mustern der Gastronomie. Jeder einzelne Baustein wirkt wie von der Pinzette auf den Millimeter genau platziert.
Dabei bestehen diese Gänge nicht aus tausenden von einzelnen Komponenten. Jedes eingesetzte Produkt hat seine Aufgabe, eine feste Funktion. Viele bestehen gar nur aus einem einzigen Stück. Nach der Vorstellung der gesamten Gerichte, wird schlussendlich das daraus resultierende Menü der Saison aufgelistet. Interessant ist dabei auch die Rubrik „Was hätte sein können, aber nicht war“. Diese Liste beinhaltet alle aussortierten Speisen, die es nicht in die abschließende Auswahl geschafft haben. Dem Leser wird fast nichts vom Werdegang eines Menüs vorenthalten. Den restlichen Teil dieses Bandes beschäftigt sich dieser mit den Zubereitungen aller Gerichte. Dabei helfen eine Indexnummer und eine kleine abgebildete Vorschau bei der Wiedererkennung. Die Rezepte sind in Schritten angegeben und absolut funktional dargestellt.
Der Verzicht Flüssigkeitsmengen immer mit einer Gewichtsangabe bestimmen zu lassen, wirkt sich sehr positiv auf die Genauigkeit des letztendlichen Rezeptes aus. Ein Punkt, den viele aktuelle Kochbücher immer wieder zu oft missachten. Neben der Jahreszeit, um saisonale Produkte verarbeiten zu können, ist auch die Menge an Personen für die das Rezept reicht, angegeben. Im ersten Katalog zähle ich bereits mehr als 110 Rezepte. Für den kompletten Stamm wirbt Phaidon mit einer stattlichen Anzahl von mehr als 750 Rezepten, die es in allen Büchern nachzuschlagen gibt.