“Modernist Cuisine at home”
“Modernist Cuisine” ist ein Standardwerk. Es fasst die Welt der Kulinarik der Menschheit zusammen und vermittelt sehr ausführlich seinen Verlauf bis in die Gegenwart. Viele Kulturen werden dabei berücksichtigt. Ein solches Unternehmen braucht natürlich auch ein ausreichend großes Podium und das hat es mit den 5 Bänden sowie zusätzlichen Rezepthandbuch auch bekommen. Dieser Meilenstein ist für 399 € seit einigen Jahren im Buchhandel zu erwerben und seitdem nicht mehr wegzudenken.
„Modernist Cuisine at home“
Dr. Nathan Myhrvold & Maxime Bilet
TASCHEN GmbH
Köln, 2013
676 S., 2 Bd. im Schuber, gebunden, 99,99 EUR
ISBN: 978-3836546485
Es stellt sich für den ambitionierten Koch am Herd zu Hause nun die Frage, investiere ich diesen nicht unerheblichen Betrag, um meiner Leidenschaft zu Hause auch auf technisch höchstem Niveau frönen zu können.
Modernist Cuisine at Home ist eine Offenbarung
Diese Entscheidung wird einem nun seit einigen Monaten leicht gemacht. Für die Künstler in den eigenen vier Wänden gibt es eine “at home” Variante. Sie ist für den Bedarf zu Hause zugeschnitten und für rund ein Viertel des Geldes und Dank des Taschen- Verlages auch auf Deutsch zu haben.
Wer “Modernist Cuisine” als ein Kochbuch im eigentlichen Sinne versteht, begreift nicht dessen Funktion. Modernist Cuisine ist nicht weniger als ein wissenschaftlich fundierter Ratgeber, der einem die Möglichkeit gibt, sich mit den aufwendig und auch sehr zeitintensiv ermittelnden Erkenntnissen der Gastronomie, also der Wissenschaft des Magens, vertraut zu machen um so Prozesse zu verstehen und auch zum Beispiel bei unvorhergesehenen Fehlern angemessen reagieren zu können. Das ist das wesentliche Merkmal, das einen guten von einem schlechten Herdkünstler unterscheidet, nämlich die Gabe, Prozesse bei der Zubereitung einzuleiten und Fehlerquellen frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls richtig zu reagieren. Das ist essentiell bei einer Tätigkeit, welche sich mit so vielen verschiedenen Rohstoffen konfrontiert sieht. Erfahrung spielt auf dem Gebiet des Kochens eine große Rolle. Ein guter Koch kann hören, wenn sein Steak in der Pfanne den Punkt erreicht hat, bei dem man es wenden sollte. Man kann riechen, wenn ein Karamell zu dunkelbraun geworden ist und deswegen schon zu viele Bitterstoffe entwickelt hat, so dass er ungenießbar ist. Die Viskosität der Sauce ist zum Beispiel auch gut am Blasenschlag zu deuten, der auch verrät, ob sie noch mehr eingekocht werden sollte oder bereits die gewünschte sämige Konsistenz besitzt. So wird einem anhand dieser Erkenntnisse klar, dass Routine einen Großteil des Kochens, ob zu Hause oder am professionellen Herd im Restaurant, ausmacht, will man denn reproduzierbare Ergebnisse garantieren.
Und der Modernist Cuisine ebnet einem das wissenschaftliche Verständnis für die lukullischen Projekte, die wir uns Tag für Tag vornehmen, und wie schon anfangs erwähnt, versucht die “at home” Version das im Kleinen.
Hat man schon einmal die “große Ausstattung” in den Händen halten dürfen, wird man denken, dass dieses Buch nun eine abgespeckte, ausgedünnte Edition sei. Doch weit gefehlt. Die für den Home- Cooking Bereich eher irrelevanten Themen, wie Lebensmittelsicherheit, Mikrobiologie und zum Beispiel die Geschichte der Foie Gras oder andere kulturellen Schwerpunkte wurden eher weggelassen. Sämtliche Kochverfahren und -techniken sind nach wie vor enthalten und geben das gesamte Spektrum der bisher recht spärlich dokumentierten zeitgemäßen Garverfahren wieder.
Natürlich nährt man sich von Anfang an dem Leser mit gewissen Grundlagen, welche die Art der Rezeptedarstellung und auch gewisse grundlegende Prinzipien näher bringen, um das möglichst effektive Arbeiten mit dem Buch zu gewährleisten.
Ein zentraler Bestandteil dafür bilden zum Beispiel die “zehn Grundsätze der modernistischen Küche”. Hier ein Auszug:
„1. Kochen ist eine kreative Kunst, bei der der Koch und Gast in Dialog miteinander treten. Das Essen selbst ist das Hauptmedium für diesen Dialog, und alle sinnlichen Aspekte der Speiseerfahrung tragen dazu bei.
2. Kulinarische Regeln, Konventionen und Traditionen müssen verstanden werden, doch sie dürfen die Entwicklung kreativer neuer Gerichte nicht behindern.
3. Der kreative Bruch mit kulinarischen Grundsätzen ist eine wirkungsvolle Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen und zum Nachdenken über das Esserlebnis anzuregen.”
Lässt man dieses Kapitel der Basis hinter sich, stößt man auch sogleich auf das erste Kapitel, welches auf eine unkonventionelle Form dem Leser klar macht, wie das bessere Verständnis von Kochutensilien auch alternativ vermittelt werden kann. Nämlich indem man wie hier einfach mal einen Rotor der Lange nach halbiert und samt zu pürierender Tomate präsentiert. Es offenbart sich das Innenleben, wie es die Wenigsten wohl kennen dürften, was zur Folge hat, dass die angewandte Technik, die mehr und mehr an den heimischen Herd Einzug gehalten hat, entmystifiziert wird.
So werden in einer Utensilienliste zusätzlich unentbehrliche Gerätschaften der modernistischen Küche samt Herstellerangaben und Preise aufgeführt.
Eine unverwechselbare Darstellung der Techniken
Ein wichtiger Abschnitt ist zudem das Portionieren oder auch Abmessen der Zutaten, welche heute immer noch oft mittels Teelöffel, Tassen und sonstigen Volumeneinheiten bestimmt werden. Die Autoren sehen heute keinen Grund mehr darin, die Produkte nicht mehr ausschließlich mit der Waage abzumessen. Dabei wird nicht nur eine Waage, die auf das Gramm genau wiegt empfohlen, sondern Modelle mit der Option bis auf ein Hundertstelgramm genau zu wiegen, werden angeraten. Sollte man zudem sich für eine Waage entscheiden, die in der Lage ist mit Skalierungen zu arbeiten, kann man einen weiteren wesentlichen Vorteil des Buches nutzen. Die Ingredienzien werden stets in Verhältnisse zueinander gesetzt und prozentual angegeben, so dass lästige Umrechnungen der Vergangenheit angehören. Das steigert die Funktionalität der Zubereitungsanleitungen enorm.
Diese Informationen wechseln sich mit Gerätevorstellungen der unterschiedlichsten Art ab. So werden, wie zuvor auch der Rotor, Maschinen wie der Schnellkochtopf, ein klassischer Haushaltsofen, der isi- Siphon, die Mikrowelle, ein Vakuumierer, ein BBQ- Grill oder auch der seit einiger Zeit sehr angesagt Sous- Vide- Garer mittels Querschnitt sehr anschaulich und einzigartig erklärt und mit Beispielen regelrecht vorgeführt, wie man es in einem Buch bis dato nicht zu erwarten vermochte. Der Aha- Effekt wird sich mit Sicherheit bei vielen unterschiedlichen Abschnitten dieses Buches einstellen, da man sich ohne diese Einblicke einige Prozesse nicht erklären konnte, die einem aber nun recht simpel erscheinen.
Step – by – Step Verfahren
Die Darstellung dieser Abläufe verläuft über “Step- by- Step”- Verfahren und ist ausreichend bebildert. Oft gibt es dabei für ein und dieselbe Technik mehrere Beispiele, welche ich auf den ersten Blick auch für sinnvoll in der Anwendung halte, sei es nun zu Hause oder gar auf dem Arbeitsplatz in der Restaurantküche.
Finden sich bei dem einen oder anderen Rezept nicht die empfohlenen Gerätschaften zu Hause an, wird hier auch mit gutem Rat zur Seite gestanden. So simuliert man den Vakuumierprozess mittels Eisbad und “Ziploc”- Verschluss am Plastikbeutel.
So beinhaltet dieser Band über die 23 Kapitel hinweg ein kaum zu unterschätzendes Sammelsurium an Fachwissen, wissenschaftlich untermauert und mit vielen sehr hilfreichen Tricks. Bis auf ein makaberes Detail der Hummerschlachtung, welche hier an einem lebendigen Exemplar beschrieben ist, indem man ihn halbiert, habe ich an diesem Buch nichts Überflüssiges oder gar Entbehrliches finden können. Ähnliche Beispiele findet man bei Exportschlagern, die ins Deutsche übersetzt worden sind, immer wieder. So auch bei Daniel Humms ersten Werk, welcher Hummer in der amerikanischen Buch- Version weit unter 100 Grad gart. Bei der Übersetzung hat man aber diese Art der Zubereitung nicht belassen, und die deutschen Gesetze als Grundlage genommen und die Rezepte entsprechend angepasst. Das hätte ich mir hier auch gewünscht.
Erwähnenswert ist noch das tolle Rezeptbuch, welches sehr praktisch daherkommt. Man bietet dem Käufer der “at home”- Ausgabe die gleiche abwischbare und mit einer Ringbindung ausgestatteten Sammlung an.
Fazit
Es schließt endlich ein zeitgemäßes Standardwerk die Kluft, die so viele tolle Kochbücher hinterlassen, indem sie zwar viele Rezepte anbieten, welche die meisten der hier erklärten Geräte voraussetzen, aber gleichzeitig kein Platz schaffen, um die neuen Abläufe und Funktionsweisen der Küchennovitäten nachvollziehbar und verständlich zu machen. Das schafft “Modernist Cuisine at home” spielend. Es wird wohl zudem für die nächsten zwei Dekaden als Referenzwerk in Sachen Küchentechnik sowie -wissenschaften dienen.
Wenn du Modernist Cuisine richtig gut fandest, wäre „The Food Lab“ von J. Kenji López-Alt
sicher auch was für dich. Von der Tiefe her würde ich es zwischen Modernist Cuisine at Home und den normalen Modernist-Cuisine-Büchern anordnen.
Ich hatte beim Lesen aber sehr viele Aha-Effekte und konnte für meine Kochpraxis doch deutlich mehr mitnehmen als bei Modernist Cuisine at Home. Ästhetisch kann es aber leider nicht mit den beiden anderen Büchern mithalten.