Ein Projekt ganz besonderer Art halte ich derzeit in den Händen. Nicht mehr und nicht weniger als ein Kochbuch für Blinde zu schaffen, hieß das Vorhaben von der Münchner Buchverlegerin Justina Hoegerl. Dass dies kein leichtes Unterfangen sein wird, konnte sie sich aus ihrer bisher gemachten Erfahrung im Bereich der Kochbucherstellung vermutlich ausmalen. Der Justina Verlag hat es sich nämlich zur ehrenwerten Aufgabe gemacht, Kochbücher vorbei am Mainstream für Menschen mit Erkrankungen oder anderen Handicaps, herauszugeben. So ist das erste vertriebene Buch eines für eiweißarme Ernährung, welches Menschen mit einer bestimmten Stoffwechselstörung entgegen kommt.
„Trust in Taste“
Michael Hoffmann
Gestaltung: Verena Gerlach, Berlin
Fotografie: Janine Guldener
Justina Verlag
München, 2011
264 S., 2 Bände gebunden
mit Audio CD, 125 EUR
ISBN: 978-3-9812602-4-3
In Deutschland leben ca. 164.000 (0,2%) blinde und 1.066.000 (1,3 %) sehbehinderte Menschen[1]. Grund genug für sie eine Alternative zu schaffen. Doch mit diesem Werk ist nicht nur ein gelungener Gegenvorschlag zum bisher Dagewesenen gelungen, hier wurde eher die Messlatte für alles Nachfolgende deutlich höher gelegt.
Dass dieses Werk besondere Eigenschaften hat, bemerkt man direkt beim ersten Auspacken. Erwartete ich bei dem durchaus erst hoch eingestuften Preis von 125 €, ein schweres, hochglanzgedrucktes Machwerk mit umfangreichen Repertoire an Rezepten und Kniffen, die mich kochtechnisch weiterbringen, auch wenn es ein Buch für Blinde ist. Aber das war etwas kurz gedacht, da man sich beim Kochen ohne die visuellen Eindrücke dem Leser zwangsläufig anders nähren muss. Das fängt schon bei dem gewählten Medium an.
Sofort erfühlt man auf jeder zweiten Seite die Braille- Schrift, jene Blindenschrift, die Lesen durch Fühlen möglich macht. Jede zweite Seite ist damit gestanzt, da abwechselnd die Informationen für die sehenden Leser abgedruckt sind. Dass Funktionalität weiterhin stark im Vordergrund steht, lässt sich auch nur unschwer an der für den praktischen Gebrauch am heimischen Herd absolut brauchbaren Ringbindung feststellen. So blättert das Buch während des Kochens nicht unbemerkt hin und her.
Dass das Kochen ohne das ein oder andere Malheur nicht auskommt, spielt sicherlich in beiden Welten eine entscheidende Rolle, dafür wurden die Seiten zellophaniert, was ein Abwischen dieser ermöglicht. Das ist praktisch und irgendwo für ein Kochbuch auch sehr logisch!
Die Maßeinheiten wollen auch noch erklärt werden, weil die Rezepte für Blinde gerade bei den Flüssigkeiten nur in TL, EL und Tassen beschrieben werden.
Die Kategorien „Solo“ & „Team“ verraten, inwiefern man dieses Rezept allein oder doch lieber in Verbindung mit einem Sehenden zubereiten sollte. Und schon geht es los!
„Dass es nicht sehr leicht ist, kann man selbst an sich testen,…“
Das Klassifizieren der Maßeinheiten vermittelt schon, wie aufwendig es für M. Hoffmann gewesen sein muss, geeignete Rezepte zu finden, die das blinde Kochen nicht zu schnell an die Grenze des Machbaren bringt. Selbstversuche mit verbundenen Augen waren ihm dafür immens wichtig, um sich so hineinversetzen zu können.
Dass es nicht sehr leicht ist, kann man selbst an sich testen, da neben dem Buch auch eine CD mitgeliefert wird, welche in Hörbuchform die Rezepte vermittelt. Bevor man sich die Augen verbindet, sollte man sich in seiner Küche genügend vorbereiten, um eventuelle Gefahrenquellen auszuschließen. Dann kann man ja mal sich an das blinde Eiertrennen, das Abschmecken mit Pfeffer & Salz oder Zwiebelschälen samt Kleinschneiden wagen um zu erkennen, was da für ein Geschick und Menge an Erfahrung notwendig ist.
So erschließt sich einem sehr schnell der anfänglich hoch gesteckte Preis, der sich hier nicht vorwiegend über die Präsentation, sondern über die Anwendbarkeit des Buches rechtfertigt.
Die aufgeführten Rezepte sind vom Schwierigkeitsgrad nicht tief gestapelt. Sehr schöne Kompositionen, wie eine „Gemüsebouillon mit Backpflaumen und Aal“ oder „Orientalisches Entenconfit mit Pok Choi im Sud“ sind hier aufgeführt.
Was aber nicht heißen soll, dass Sehende hier nicht auch auf ihre Kosten kommen. Janine Guldener bebildert die Rezepte sehr natürlich und ohne Effekthascherei. Gepaart mit vielen Makroaufnahmen, welche großformatig abgebildet sind, und so Fläche für die vielen Seiten mit Brailleschrift ermöglichen, präsentiert sich dieses Kochbuch in einem stimmigen unaufdringlichen Konzept.
PS: Wer nun vergeblich versucht hat, die Eier ohne Sicht zu trennen, kann auf Seite 125 nachschlagen, da gibt es 3 Wege. Scheint wohl doch nicht so einfach zu sein und das erhöht meinen Respekt gegenüber all derer, die Ihren Alltag so gebacken bekommen.
[1] Quelle: Wikipedia
Copyright sämtlicher Bilder: Janine Guldener
Hinweis der Redaktion
Ein Teil der besprochenen Produkte wurden von Unternehmen zu Testzwecken zur Verfügung gestellt.
Das klingt nach einem wundervollen Buch! Wenn man das Glück hat halbwegs gesund durchs Leben gehen zu können, dann macht man sich viel zu selten Gedanken über Menschen, die ihren Alltag trotz Hindernisse wie zB nicht oder schlecht sehen können meistern müssen. Danke, dass du uns dieses Buch vorgestellt hast.
Für mich war es auch die erste wirkliche Auseinandersetzung zu diesem Thema. Der tatsächliche Umfang und die Umstellungen, welche man betreiben muss, sind enorm. Da stößt man schnell an seine Grenzen. Umso erstaunlicher die Menschen dann doch sind, die uns so Gegenteiliges aufs Einfachste beweisen.